Es ist in etwa ein Jahr her. Ende April 2014 errichten Gegner der Regierung in Kiew nach dem Vorbild des Maidan ein Protestcamp inmitten der Hafenstadt Odessa. Am Vormittag des 2. Mai wird das Lager von Anhängern des nationalistischen Rechten Sektors überrannt, der seine Reihen durch Ultras aus der Fan-Szene des Fußball-Klubs Metalist Charkiw aufgefüllt hat. Viele Aktivisten fliehen ins Gewerkschaftshaus am Zentralbahnhof und geraten in eine tödliche Falle. Die Polizei bleibt untätig, obwohl es für die Eingeschlossenen immer bedrohlicher wird. Aus der Meute vor der Tür fliegen Blendgranaten und Molotow-Cocktails, so dass aus den Fenstern des Gebäudes bald Flammen schlagen. „Lasst sie uns abfackeln!“ – skandieren die Belagerer.
48 Menschen sterben – ersticken, verbrennen oder werden erschossen. Die ukrainische Regierung, die Stadt Odessa, die Staatsanwaltschaft bleiben erschöpfende Untersuchungen schuldig. Bis heute liegt kein abschließender Bericht vor. Wer russischen Opfermythen, vor denen in Kiew gern gewarnt wird, keinen Raum geben will, sollte aufklären: Wie konnte in einer ukrainischen Großstadt am helllichten Tag ein Massenmord verübt werden? Weshalb wurde die Polizei zum Komplizen der Täter? Was hatte Andrij Parubi, Gründer der profaschistischen Swoboda-Partei und seit Februar 2014 Chef des Nationalen Sicherheitsrates, an jenem 2. Mai in Odessa zu tun? Warum verfügte Kiew keinen nationalen Trauertag, um der Opfer zu gedenken? Weil es sich bei den Toten mehrheitlich um russischstämmige Bürger handelte?
Komm und sieh!
Beim Nachdenken über das Massaker von Odessa drängen sich Assoziationen auf: das brennende Haus und brennende Holzkirchen. Es gab sie einst hundertfach in Weißrussland. Gotteshäuser, in die Menschen getrieben und eingesperrt wurden, um sie anschließend durch Flammenwerfer anzuzünden. Dieses Gerät zählte zur Ausrüstung von Sondereinheiten wie der von SS-Oberführer Oskar Dirlewanger, der 1943 häufig das Kommando führte, wenn von weißrussischen Dörfern nur Asche blieb. Komm und sieh! heißt der Spielfilm des sowjetischen Regisseurs Elem Klimow (produziert 1983/84), der gnadenlos realistisch rekonstruiert, wie es zuging, wenn Menschen ausgelöscht wurden. Man sollte ihn sich ansehen, um die Bilder ertragen zu müssen. Klimows historische Vorlage war der Untergang des Dorfes Chatyn am 22. März 1943.
Verbrannte Erde, verbrannte Menschen – Chatyn und Odessa, die Vorgänge zu vergleichen, heißt nicht, sie gleichzusetzen, auch wenn unbestreitbar ist: Wo sich Vernichtungswille entlädt, ist Barbarei nicht weit. Es gibt keine zwei Wahrheiten, schon gar nicht für die Geschichte.
Weshlb dieser Exkurs? Der Kampf um die Ukraine wird heute mehr denn je über den Umgang mit der Vergangenheit ausgefochten. Dies betrifft den Großen Vaterländischen Krieg in der Sowjetunion wie das Verhalten ukrainischer Handlanger deutscher Besatzungsmacht. Wer der jetzigen Führung in Kiew, den sie tragenden Parteien und Politikern dazu ein höchst ambivalentes Verhältnis bescheinigt, lässt viel Nachsicht walten. Tatsächlich werden Geschichtsbilder kolportiert, die nationalistisch bis faschistoid sind. Normalerweise dürfte kein EU-Politiker – schon gar kein deutscher – auf die Idee kommen, deren Urhebern „den Weg nach Europa“ zu ebnen. Was sind all all die mahnenden Sätze zum 8. Mai 1945 wert, wenn ihnen in diesem Fall der aktuelle Sinn abhanden kommt?
Schon nach der Orangenen Revolution (2004) hatte der Präsident Wiktor Juschtschenko (2005 – 2010) auf ein nationalukrainisches Geschichtsbild gesetzt und einen Stepan Bandera postum zum „Helden der Ukraine“ erklärt. Dabei dürfte bekannt gewesen sein, dass dessen Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) am 31. Juni 1941 in Lemberg 7.000 polnische Juden ermordete und während der deutschen Okkupation mit SS-Einsatzgruppen kollaborierte, um ukrainische Juden zu jagen und zu töten. 1941 wollte Bandera einen unabhängigen Staat ausrufen, scheiterte aber am deutschen Veto.
Zum Maidan-Aufstand Ende 2013 tauchte das heroisierte Idol als sinnstiftende Ikone wieder auf. Banderas Foto hing wochenlang am besetzten Kiewer Rathaus. Sich auf diesen Mythos berufen, das hieß: Patriot sein, den Regimewechsel vorantreiben und das Land spalten. In der Westukraine stieß der Kult auf Sympathie, im Osten auf Abscheu. Inzwischen haben Rada und Regierung in Kiew die Bandera-Armisten erneut als „Helden der Unabhängigkeit“ geadelt, seit Anfang April ergänzt durch ein Gesetzespaket, das sowjetische und nazistische Symbole auf eine Stufe stellt. Vermutlich das Vorspiel, um mit den Denkmälern der Roten Armee auch den ukrainischen Anteil am Befreiungskrieg gegen Hitler zu schleifen.
Geschichte wird zum Humus, um durch die Sakralisierung einstiger Nazi-Kollaborateure und ihres Anhangs gegenwärtiges Handeln zu legitimieren, etwa den Krieg gegen einen Teil des eigenen Volkes. Was hört man von deutschen Gedenkbalkonen, wenn 70 Jahre nach dem Holocaust dem politischen Affen dieser historische Zucker gegeben wird? Kein Anlass, um klarzustellen – mit uns nicht? Wir können in Kiew keine Macht tolerieren, die wegen ihrer antirussischen Obsession Hitlers Komplizen verherrlicht. Offenbar ist das zu viel verlangt.
Nur, was war gemeint, als der amerikanische Chefankläger Robert Jackson 1945 zur Eröffnung des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals warnte, die Untaten des NS-Regime seien von solch verwüstender Wirkung gewesen, dass „die menschliche Zivilisation eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben“ würde? Hat Jackson übertrieben? War es doch nicht so schlimm mit der Erschießung von mehr als 33.000 Juden in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew im September 1941?
Natürlich haben auch die russischen Medien ihren Anteil daran, wenn Geschichtsbilder so zugeschnitten werden, dass die Grenze zwischen Historiographie und Propanda vollends schwindet und die ukrainische Armee mit der deutschen Wehrmacht gleichgesetzt wird.
Merkel fehlt zu recht
Das Entscheidende aber ist: Wer beteuert, deutsche Geschichte angenommen zu haben, kann nicht wie Kanzlerin Angela Merkel allen Ernstes erklären, eine Reise nach Moskau zum Tag des Sieges könne „der ukrainischen Regierung nicht zugemutet werden“. Das zwingt zu der Frage: Wer ist sich näher, wenn es um den Umgang mit NS-Verbrechen geht? Kiew und Berlin? Oder Berlin und Moskau? Ob Geschichte eine Wiederholungstäterin sein darf, wird maßgeblich durch die Definition und die Narrative bestimmt, die man ihr angedeihen lässt. Daraus ergibt sich im Moment: Nicht nur geteiltes, auch gegensätzliches Erinnern prägt diesen 70. Jahrestag. Es kann nicht zusammen gedenken, wer nicht mehr zusammen gehört oder gehören will. Insofern ist es folgerichtig, dass Angela Merkel am 9. Mai in Moskau fehlt. Sie passt dort wegen ihrer Kiewer Affinitäten nicht hin.
In Danzig gebrauchte am 1. September 2014 Bundespräsident Joachim Gauck den deutschen Überfall auf Polen 75 Jahre zuvor als historische Folie, um Russland wegen seiner Ukraine-Politik in die Nähe Nazi-Deutschlands zu rücken: „Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern.“ Ein historischer Vergleich, dessen Quintessenz lautet, erlaubt nicht Putin, was Hitler erlaubt wurde. Aggressoren wie diese nehmen sich sonst, was sie wollen. Bleibt nur das Prinzip Hoffnung: Möge derartiger Gebrauch von Geschichte nicht zur Staatsräson werden.
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