Vergeltung und Versuchung

Türkei/Syrien Ankara hält die Zeit offenbar für reif, sehr direkt und sehr riskant in einen Konflikt einzugreifen, der ihr als Regionalmacht nicht entgleiten soll
Der türkische Grenzort Akcakale unter Beschuss. Nur von wem'?
Der türkische Grenzort Akcakale unter Beschuss. Nur von wem'?

Foto: Rauf Maltas/Anatolia/AFP-Getty Images

Die Regierung Erdogan wird wissen, was sie tut. Das heißt, sie dürfte kaum darauf spekuliert haben, dass die NATO wegen der Spannungen mit Syrien den Bündnisfall ausruft. Der NATO-Staat Türkei hat sich keiner Aggression zu erwehren. Seine Sicherheit ist nicht bedroht, geschweige denn der Verteidigungsfall gegeben, der zu kollektiven Maßnahmen der Allianz zwingen würde. So hat die Sondersitzung der NATO-Botschafter in Brüssel mit ausdrücklichem Bezug auf Artikel 4 des NATO-Vertrages stattgefunden, nach dem Mitglieder das Recht haben, um Konsultationen mit den Partnern zu bitten. Von Artikel 5 des Vertrages und dem dort verankerten Bündnisfall ist nicht die Rede.

Ein Vergleich mit dem Luftzwischenfall Ende Juni könnte hilfreich sein, um zu verstehen, was im Augenblick geschieht. Seinerzeit hatte eine türkische Militärmaschine den syrischen Luftraum verletzt und wurde abgeschossen. Erschien die Türkei als Täter und Opfer, und zwar in dieser Reihenfolge, könnte das Land diesmal – soweit man den kolportierten Nachrichten Glauben schenkt – Opfer eines Beschusses von syrischer Seite gewesen sein, bevor mit einem Gegenschlag militärische Tatkraft demonstriert wurde. Steht der Syrien-Konflikt damit endgültig an der Schwelle zum regionalen Konflikt, der auf andere Staaten übergreift? Neben der Türkei wären besonders Libanon und Jordanien betroffen.

Kurdische Autonomie

Darauf lässt sich nur antworten, es gäbe keinen Bürgerkrieg von solcher Intensität und Dauer, mit diesen Opferzahlen und von derart zerstörerischer Wucht wüssten nicht regionale Mächte, was sie bei einem regime change zu gewinnen – oder eben zu verlieren hätten. Es ist in diesem Kontext aufschlussreich, dass die Ermächtigung des türkischen Parlaments für seine intervenierenden Streitkräfte darauf hinausläuft, ein bereits bestehendes Gesetz zu ergänzen. Es legitimiert "Operationen außerhalb der türkischen Grenzen" und war bisher dazu gedacht, gegen Rückzugsräume von Guerilla-Einheiten der kurdischen Arbeiterpartei PKK im kurdisch regierten Nordirak vorgehen zu können. Wer die Jahre nach der US-Intervention im Irak vom Frühjahr 2003 erinnert, der wird darauf stoßen, dass die türkische Armee des öfteren unter Bruch internationalen Rechts in den Nordirak eingedrungen ist.

Es liegt insofern auf der Hand, dass Ankara die sich ausbreitenden Enklaven kurdischer Autonomie im Norden Syriens mit Argwohn verfolgt. Gewiss werden damit noch keine vollendeten Tatsachen geschaffen, aber wer wollte eine Beispielwirkung für türkische Kurden in Südostanatolien bestreiten? Je länger der Ausgang des syrischen Bürgerkrieges offen ist, desto länger werden sich die Vorposten kurdischer Selbstbestimmung in Syrien behaupten. Sie sind aus dem Widerstand gegen das Assad-Regime entstanden und können die gleiche moralische Legitimation beanspruchen wie die vorrangig sunnitischen Kombattanten der Freien Syrischen Armee (FSA). Deren Ausbildungscamps liegen in der Türkei, deren Nachschub-Basen laufen durch die Türkei, deren dschihadistische Verbündete strömen über das Transitland Türkei, deren politische Fürsprecher sitzen in der türkischen Regierung, deren Aktionsfeld in Syrien wird unter den türkischen Angriffen auf Stellungen der Assad-Streitkräfte nicht leiden.

Nun hält die Türkei offenbar die Zeit für reif, sehr direkt und sehr riskant in einen Konflikt einzugreifen, den sie als Regionalmacht geschürt, und der ihr als Regionalmacht nicht entgleiten soll. Im Gegenteil, sie will damit ein Statur gewinnen. Auch die Kurden sollen das zu spüren bekommen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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