Ist Gefahr im Verzug, setzt das die Demokratie außer Vollzug. Dieser Eindruck entsteht, hält man sich vor Augen, wie in London Exekutive und Legislative den Auftrag missachten, den ihnen der Wähler mit dem EU-Referendum vom 23. Juni 2016 erteilt hat. Begründung: Es droht der ökonomische Kollaps, es droht nationale Schmach, es droht mit dem Backstop die Geiselnahme durch die EU, es drohen Neuwahlen, es droht ein Deal, es droht ein No-Deal usw. – Dysfunktionalität auf ganzer Linie. Die parlamentarische blockiert die plebiszitäre Demokratie, weshalb das Ganze zum paradigmatischen Vorgang wird. Und das gilt unabhängig davon, welche Wendungen es noch gibt, und ob Theresa May mit ihrem jüngsten Angebot an Labour Erfolg hat.
Im Frühjahr 2005 wussten die Regierungen in Paris und Den Haag, wie sie sich zu verhalten hatten, als bei Volksabstimmungen in ihren Ländern der in Aussicht genommene EU-Verfassungsvertrag durchgefallen war. Sie ließen das Projekt ebenfalls fallen. Warum also fühlen sich die Regierung May wie das Unterhaus seit Monaten berufen, den zum EU-Verbleib befragten Souverän wie einen Hanswurst zu behandeln? Und was hat eigentlich die EU getan, um dem Mehrheitswillen im Vereinigten Königreich Geltung zu verschaffen? Nicht übermäßig viel. Wenn die Briten weitgehend ergebnisoffen aus der Union bugsiert werden sollten, sofern es um ihren künftigen Status ging, verantworten EU-Kommission und Europäischer Rat die entstandene Situation sehr wohl mit. Sie haben das Dilemma nicht heraufbeschworen, aber ebenso wenig verhindert, als es sich abzeichnete.
Tatsächlich gab es, wie man inzwischen weiß, nur einen realistischen Weg, um die Unterhausmehrheit – wie sie nun einmal ist – von einem Interessenausgleich mit Brüssel zu überzeugen. Er führte weder über die Zollunion noch Teilhabe am Binnenmarkt, sondern gebot sofortige Verhandlungen über eine Freihandelszone. Das hätte bedeutet, den Ausstieg fristgerecht zu vollziehen, aber die folgende Übergangszeit nicht als unbefristetes Kräftemessen anzugehen, bei dem Großbritannien fürchten musste, als Bittsteller behandelt zu werden, der an Handelskonditionen schlucken muss, was gefällt.
Um London da entgegenzukommen, musste sich die EU nicht wie Odysseus zwischen Skylla und Charybdis hindurch manövrieren und um die Existenz bangen. Es galt allein, Prioritäten zu setzen. Geht es um einen Präzedenz- oder einen Ausstiegsfall? Erlaubt das Gemeinschaftsrecht nur diesen Brexit-Vertrag oder ist zu große Verhandlungshärte geeignet, die Gegenseite zu paralysieren? Was ist das einmal getroffene demokratische Votum der Briten noch wert, wenn die Frist bis zum EU-Ausstieg ständig zur Disposition steht? Denn soviel steht außer Frage, einigt man sich über eine Freihandelszone oder darüber, diese zügig auszuhandeln, ist zwischen Irland und Nordirland keine harte Grenze in Sicht, und das ganze Backstop-Syndrom löst sich in Wohlgefallen auf.
Auch wenn das Verhandlungsgebaren der EU vielleicht nicht darauf angelegt war, bewirkt es jetzt womöglich, Britanniens EU-Exit gründlich zu strecken. Die prekäre Konstitution des europäischen Staatenkartells hätte dann dazu geführt, das Brexit-Votum von 2016 befristet außer Kraft zu setzen oder ganz aufzuheben. Wer über ein zweites Referendum auf der Insel schwadroniert, leistet solch autoritärer Hybris klar Vorschub.
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