Angenommen, Präsident Nicolás Maduro wird durch einen Militärputsch aus dem Amt getrieben. Wo könnte er Zuflucht finden? In der Botschaft Brasiliens? Dessen Mission in Tegucigalpa nahm einst den honduranischen Präsidenten Manuel Zelaya auf, als der im September 2009 nach einem Staatsstreich um sein Amt kämpfen, aber sich nicht sinnlos opfern wollte. Zweifel sind angebracht. Die derzeitige brasilianische Regierung dürfte Maduro eher abweisen als helfen.
Offenbart diese Annahme das Dilemma der Bolivarischen Revolution, aus der Zeit gefallen zu sein, obwohl deren Frontmann Hugo Chávez noch vor wenigen Jahren den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ reklamierte? Im Moment wirkt diese Verheißung – seit dem Tod des Comandante im März 2013 ohnehin ihrer messianischen Aura beraubt – wie eine Vision unverbesserlicher Träumer, denen der Sinn für die Realitäten ringsherum abhanden kam.
Reservate der Restauration
In Argentinien und Brasilien konnten sich linke Regierungen nicht halten. Abgesehen von der selbstverschuldeten Diskreditierung durch ein teilweise kriminelles Amtsverständnis, gibt es dafür einen maßgeblichen Grund: Das staatsfixierte Modell der sozialen Emanzipation und eines „Wachstums in Würde“ (Lula da Silva) stieß an Grenzen. Wenig überraschend hat sich mehr Verteilungsgerechtigkeit als nicht krisenfest erwiesen. Sie blieb Geisel der Konjunktur, des Weltmarktes, der Staatsfinanzen, massiver rechter Gegenmacht. Von den unter dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva ab 2003 aufgelegten Programmen wie Fome Zero (Null Hunger) und Bolsa Família (sinngemäß übersetzt: Familien-Stipendium) profitierten zuletzt 12,8 Millionen Familien, also mindestens 80 bis 90 Millionen Brasilianer. Die Ausgaben lagen pro Jahr bei 35 bis 40 Milliarden Reais (acht bis zehn Milliarden Euro), die aufzubringen einem Staat schwerfiel, dessen Einnahmen boomentsorgt inbrachen.
Linke Präsidenten wie Lula, seine Nachfolgerin Dilma Rousseff, auch Cristina Kirchner in Argentinien, Evo Morales in Bolivien oder Hugo Chávez in Venezuela mussten Regierungsmacht ausschöpfen, um ihrer Agenda gerecht zu werden. Nur war administrative noch nie per se mit Staatsmacht gleichzusetzen, was in Lateinamerika immer dann offenbar wurde, wenn entthronte Eliten zurückschlugen. Es waren Teile der Armee, die am 12. April 2002 in Caracas gegen Chávez putschen, jedoch aufgeben mussten, als sich der Widerstand seiner Anhänger regte. Es war die Oligarchie der Obristen, die im Sommer 2009 den linksgerichteten honduranischen Präsidenten Zelaya stürzte und in demütigender Weise nach Costa Rica deportierte (nachdem die Maschine auf der von US-Streitkräften betriebenen Air Base Soto Cano zwischengelandet war). Dilma Rousseff wurde jüngst zum Opfer eines institutionellen Staatsstreichs, bei dem von der Legislative bis zum Obersten Gericht Machtzirkel der Restauration zeigen konnten, zu welch subversiver Energie sie imstande sind – und weshalb. Der Profiteur des Impeachments, Interimspräsident Michel Temer, bestellte mit Wirtschaftsminister Henrique Meirelles einen erklärten Gegner des sozialstaatlichen Wirtschaftsmodells der letzten anderthalb Jahrzehnte. Bisher war ihm kein Wort darüber zu entlocken, wie und ob Bolsa Família eine Zukunft vergönnt ist. Auch sei daran erinnert, dass es die antichavistische Opposition Venezuelas wie ihren eigenen Triumph feierte, als sich Ende 2015 in Buenos Aires der konservative Präsidentenbewerber Mauricio Macri mit einem explizit wirtschaftsfreundlichen Programm durchsetzte.
Sich des Staates nie sicher sein zu dürfen, das war für Linksregierungen in Lateinamerika – man denke an Chile Anfang der 70er Jahre – eine Überlebensfrage, weil sich die Gegenseite ihrer Machtreservate, besonders der ökonomischen, stets sicher sein konnte. Woran das bis heute liegt, zeigt das Beispiel Venezuelas. Dort münzte das dem brasilianischen verwandte System der Ära Chávez die lange als gesichert geltenden Öleinnahmen in Sozialpolitik und politischen Zuspruch um. Seit Ende der 90er Jahre wurde damit einer von den USA ausgehenden neoliberalen Hegemonie eine klassisch sozialdemokratische Politik entgegengesetzt. Der leider ein entscheidender Makel anhaftete, sie führte – allem revolutionären Furor zum Trotz – zu keinem alternativen Gesellschaftssystem. Die Eigentumsverhältnisse wurden kaum angetastet, das Ölunternehmen Petroven war bereits seit 1976 Staatskonzern, der Unternehmerverband Fedecámaras blieb als Gegenmacht im Spiel, Teile der Gewerkschaften ebenso. Auch wenn es banal klingen mag, die Praxis rigoroser Umverteilung kann kein belastbares ökonomisches Prinzip sein, wenn dem nicht alle Ressourcen einer Gesellschaft, die materiellen wie die immateriellen, förderlich sind. Erst dann kann ein „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ sein, was er verspricht.
Kommentare 14
Vielleicht ist der größere Teil der Menschen sowieso nicht „sozialismustauglich“. Der Kapitalismus mag zahlreiche Ungerechtigkeiten und viel Leid hervorbringen, aber er scheint der Disposition vieler Menschen eher zu entsprechen, als ein wie auch immer gearteter Sozialismus. Dem Sozialismus haftet die Schwäche an, dass er den Menschen immer irgendwie „verordnet“ werden muss und sich allein schon deshalb stets einer unübersehbaren Zahl an Gegnern gegenüber sieht, die sein Funktionieren sabotieren.
Möglicherweise ist deshalb das Einzige, was an gerechteren Lebensverhältnissen orientierte Zeitgenossen erhoffen können, ein „gezähmter“ Kapitalismus, dem es immer wieder aufs Neue Verbesserungen der Lebensverhältnisse für einen immer größeren Teil der Menschheit abzuringen gilt. Dass dieser Kampf stets ein schwerer sein und nie einen Abschluss finden wird, versteht sich von selbst.
»Der ›Sozialismus des 21. Jahrhunderts‹ blieb ein alternatives Gesellschaftssystem schuldig«
Das ist sicher so gewesen. Allerdings: Aufs große Ganze gesehen fällt mir kein Beispiel ein, bei dem eine gesellschaftliche Umverteilung (zumindest in großem Maßstab) »schön« verlaufen wäre. Von der Warte sozialistischer Feingeister oder Kosmopoliten ist dies sicherlich bedauerlich. Ebenso der einer großen sozialistischen Utopie im Sinn von Marx, Lafargue, Reich & Marcuse. Das Beispiel Venezuela zeigt letztlich jedoch (wieder) eines: wie schwer es ist (und welch langen Atem man benötigt), auch nur notdürftig zufriedenstellende Verhältnisse für breitere Bevölkerungsmassen herzustellen.
In dem Sinn ist die klientelistische (und darüber hinaus vor allem von der Öl-Dividende zehrende) Politik der Chavezistas sicher zu kritisieren. Die Zwickmühle, innerhalb der sie agieren, zeigt allerdings auf, wie schwer bis unmöglich es ist, auf der nationalen Ebene den neoliberalen Verhältnissen die Stirn zu bieten.
In dem Sinn: Nichts Neues unter der Sonne.
Ich gebe Ihnen Recht.
Frieden und Gerechtigkeit für jeden steht und fällt mit uns Menschen.
Die Kraft, die wir aber für das "Zähmen" brauchen, nimmt uns die Kraft und oft auch den Mut, wirklich Menschen zu werden.
Leider.
Mit dem Nonsens- bzw. Pseudosozialismus vom "Sozialismus des 21. Jahrhundert", damit verhält es sich ebenso, wie mit dem idealistisch-ideologischen Unsinn, bzw. antikommunistischen Nonsens, vom "Sozialismus chinesischer Prägung" [hier: der reale Bourgeoissozialismus europäisch-amerikanisch-chinesischer Prägung. Siehe auch hierzu schon die nüchternen Aussagen bei Karl Marx und Friedrich Engels im Manifest der Kommunistischen Partei. Deren Erkenntnisse hierzu bereits schon im 19. Jahrhundert]!
Vorbemerkung zum "Verpufften Furor":
Der heutige Blick ins weltweite Internet und auf die Werbebotschaften der (imperialistischen) Reichtums- und Konsummetropolen, kann nicht die notwendige eigene (persönliche) praktische Arbeit -Kernerarbeit- und Umgestaltung -durch die werktätigen Volksmassen auf allen Ebenen der Gesellschaft- ersetzen!
Diese geistig-manipulierenden Botschaften und Wunsch-Vorstellungen können nicht die erforderliche Entwicklung der (nationalen) Produktivkräfte in den -weltweiten- ökonomischen, ökologischen und sozialen Armuts- Krisen- und Fluchtregionen ersetzen!
Weitere, notwendige Bemerkungen:
Der Versuch einer sozialen Entwicklung der Gesellschaft, bzw. einer alternativen [realsozialistischen] Entwicklung, in einem Umfeld imperialistischer Staaten und deren Geo- und Militärpolitik, insbesondere der NATO-Staaten, unter anderem, der Nuklearmächte der Vereinigten Staaten, Frankreichs und Großbritanniens, aber auch der Staaten in NAHOST, so durch die Türkei, Ägypten und Saudi-Arabien, ist ohne nationalstaatlich-militärische Absicherung nicht möglich.
Ohne nationalstaatliche Basis ist ein Ausbrechen aus der kapitalistischen Gesellschaftsformation nicht möglich. Regionale Unabhängigkeitsentwicklungen mit antikapitalistischer und realsozialistischer Zielrichtung -- in ihrer gesellschaftlichen Gegenwarts- und Zukunfts-Entwicklung, würden die imperialistischen Staaten, Staaten- und Militärbündnisse und Metropolen, auch mit Hilfe ihrer ökonomisch-materiellen und technologischen Entwicklung im Bereich des Militärwesens und deren elektronischen und personellen Aufklärung [u.a. durch deren Geheimdineste: BND etc.], frühzeitig materiell: ökonomisch, ideologisch, geopolitisch und militärisch liquidieren [siehe doch auch nur den Untergang des welthistorischen Realsozialismus].
Ein Hauptproblem --bei allen bisher gescheiterten Sozialismusversuchen-- ist vor allem auch die ungenügende ideologische Basis in den werktätigen Volksmassen und in Folge auch deren mangelhafte Mitwirkung an der Umgestaltung [siehe auch nur die DDR und/bzw. UdSSR] der Gesellschaft und Eigentums- und Produktionsverhältnisse [die selbst-'organisierte' Verantwortungslosigkeit]. Die fehlende Bereitschaft der Werktätigen, vor allem auch der Arbeiterklasse (AK), an einer qualitativen, gesellschaftlichen und sozial-ökonomisch-ökologischen Zukunftsarbeit.
Nicht Persönlichkeiten machen die Geschichte, aber es fehlt auch am politischen Personal, an geeignete Persönlichkeiten für die selbstlose und alternative Anleitung, -- für dieses sozialistische Zukunftsprojekt. Bei aller persönlichen Glaubwürdigkeit, auch der Frontmann Hugo Chávez war ein Gefangener, nicht zuletzt, seiner idealistischen und christlich-religiösen Vorstellungen. Es bedarf auch weiterhin der praktischen und theoretischen Vermittlung der für den Sozialismus notwendigen Wissensaneignung und täglichen Arbeit. --
Hierbei ist der ständige Blick auf den materiellen Wohlstand und die Konsummöglichkeiten, -- in den kapitalistisch-imperialistischen Reichtums- und Wirtschaftsmetropolen --, kein Ersatz und schon gar keine Alternative für die (eigene) Gestaltung einer sozialistischen Zukunft.
[-- nur unvollständige Bemerkungen.]
Zusammengefasst: nicht Korruption und sonstige menschliche Schwächen sorgen für das Ende „sozialistischer Träumereien“, sondern genau dasjenige Subjekt, dass sich die sozialistischen Rohstofflieferanten so selbstbewusst als Dienstleister ihrer Vorhaben zurechtlegen wollten: der Weltmarkt.
Ja, das Zähmen ist anstrengend (Streiken, Aufbegehren), verhagelt Bilanzen (Verzicht auf Profitmaximierung) und strapaziert Freundschaften mit den Profiteuren von Ausbeutung. Wer tut sich das schon an?
Gut, nehmen wir folgendes als ausgangspunkt: "...die Praxis rigoroser Umverteilung kann kein belastbares ökonomisches Prinzip sein, wenn dem nicht alle Ressourcen einer Gesellschaft, die materiellen wie die immateriellen, förderlich sind".
Was soll eine solche praxis erreichen, bzw. was ist die grund voraussetzung, dass sie von der übergrossen mehrheit akzeptiert wird? Antwort: Es darf keinem/r (bis hinein in die obere mittelklasse) schlechter gehen als heute.
Das ist aber heute bereits mit den global verfügbaren ressourcen nicht mehr zu leisten! Dh. selbst die mittlere mittelklasse lebt bereits unter bedingungen, die weder national noch global verallgemeinerbar sind. Wenn alle menschen dieser welt auf dem lebensniveau der griechischen mittelklasse leben wollten, brauchten wir fünf (5) planeten erde.
Was folg daraus? Wenn sozialismus sein soziales versprechen einlösen soll, brauchen wir entweder ganz neuartige technologien, die mit viel weniger engerie und material viel mehr wohlstand schaffen, oder wir brauchen den radikalen verzicht der oberen zwei drittel auf ihr heutiges lebensniveau, weil deren heutiger lebensstandard bereits zur voraussetzung hat, dass die armen arm bleiben müssen.
Der ware sozialismus des 21. jh. muss also die begrenztheit des planeten nicht nur mitdenken, sondern auch zur wohlstandsbezugsgrösse machen - ohne dies wird es ihn nicht geben...
Abgesehen von der selbstverschuldeten Diskreditierung durch ein teilweise kriminelles Amtsverständnis, gibt es dafür einen maßgeblichen Grund: Das staatsfixierte Modell der sozialen Emanzipation und eines „Wachstums in Würde“ (Lula da Silva) stieß an Grenzen.
Sehr gute, präzise Analyse. Die beiden Problembereiche sind strukturell (leider) nicht zu trennen.
"verzicht der oberen zwei drittel auf ihr heutiges lebensniveau" ?
Die sozial- und gesellschaftspolitische Hauptaufgabe liegt doch bereits heute schon so nahe:
Das reichste Prozent der Weltbevölkerung verfügt über so viel -persönlich leistungsloses- Vermögen wie der ganze Rest zusammen.
Damit müssten wir eigentlich anfangen! - wenn wir es überhaupt wollen?
www.zeit.de/wirtschaft/2016-01/soziale-ungleichheit-reichtum-welt-oxfam
Venezuela ǀ Der Gucci-Aufstand — der Freitag
ist schon erstaunlich
USA sehen Venezuela als Bedrohung – Sanktionen verhängt | Aktuell
und mit dem Ölpreisverfall hat auch das nicht kommunistische Norwegen ganz schön zu tun
und Brasilien? ist das nicht der nächste Angriff auf BRICS?
Gegner von Präsidentin Rousseff aus Brasilien zu Gesprächen in den USA | amerika21
eigentlich müsste der jetzige Interimspräsident Temer der korruption angeklakt werden. Aber der Zweck heiligt die Mittel, wie auch in der Ukraine oder Georgien und Moldawien
"Damit müssten wir eigentlich anfangen! - wenn wir es überhaupt wollen?"
Nö, das will ich nicht und mein Vermögen und mein Einkommen ist auch nicht leistungslos. ;)
Venezuela ist nur ein weiterer Fall in einer ganzen Kette von Fällen, der beweist, dass noch nicht einmal der Weg zum Sozialismus in der Praxis funktioniert... ;)
Sie denken sehr tief.
Pessimistisch bin ich,daß die ,,Sozialprogramme'' so bleiben werden. Ja und das finde ich deprimierend. Ohne jetzt irgendwelche Statistiken etc.zu bringen,wird es nicht so einfach sein, diese Sozialprogramme abzuschaffen-nein-jetzt wo Leute so etwas erlebt hatten, gründen sie eher neue Gruppierungen, um das zu erhalten.Die Armut wird nie mehr so hingenommen werden.Danke für Ihren Artikel-Herr Herden.1Schritt vor und 2Schritt zurück-Eigentumsverhältnisse werden nach dem Lernprozeß das nächste Mal angetastet.Wäre schon gut, wenn der Papst noch etwas radikaler diese südamerikanischen Zustände in seinen Reden so negativ benennen würde, wie er das gelegentlich getan hat in Bezug auf europäische Verhältnisse.Die Korruption in allen Ebenen ist in Ländern der Feind schlechthin.Da kann auch kein Sozialismus in der Praxis funktionieren.