Verschwörungstheorie der Verschwörer

Historische Mission eines Putsches Im August 1991 war Gorbatschows »Europäisierung« der Sowjetunion am Ende und eine Rückkehr nach Russland unvermeidlich

Als im Februar 1994 die Duma in Moskau mit 252 gegen 67 Stimmen eine Amnestie für die Putschisten vom August 1991 und die Führer des Aufstandes der Volksdeputierten gegen Boris Jelzin im Oktober 1993 beschloss, wurde das allenthalben als innenpolitische Niederlage des damaligen Präsidenten gedeutet. Vom äußeren Schein her mochte das zutreffen. Doch Jelzin sah sich nicht wirklich brüskiert. Er hatte nie den politischen Willen zur Abrechnung mit den August-Verschwörern besessen, geschweige denn einen Bedarf an erschöpfender Aufklärung erkennen lassen. Es war zu offensichtlich, dass die Ereignisse seinerzeit seinen Ambitionen in erheblicher Weise Vorschub geleistet hatten. Nach dem 21.August 1991 war Gorbatschow erledigt, die Kommunistische Partei Russlands verboten, der Dualismus zwischen sowjetischen und russischen Machtstrukturen weitgehend überwunden. Noch dreieinhalb Monate verblieben bis zum Vertrag vom Bjelowescher Wald zwischen Jelzin und dem Ukrainer Krawtschuk wie dem Weißrussen Schuschkewitsch zur Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), die als loser und - wie sich bald zeigte - glückloser Staatenbund die Union der Sowjetrepubliken beerben durfte.

Außerdem konnte bei allem Gerede von einem Staatstreich der »alten Garde« niemand ernsthaft glauben, dass am 19. August 1991 Militärs vom Schlage des damaligen UdSSR-Verteidigungsministers Dimitrij Jasow oder des KGB-Generals Wladimir Krjutschkow ein derart dilettantisches Unternehmen starten konnten wie jene »Machtübernahme im Morgengrauen«. Entweder hatten sie fest daran geglaubt, Gorbatschow könne überzeugt werden, seine Urlaubsdatscha in Foros zu verlassen und an die Spitze der Bewegung zu gehen. Oder aber es traf jene Version zu, die Russlands Ex-Premier Walentin Pawlow bei den ersten Verhören im Gefängnis Matrosenruh´ angeboten hatte, indem er den Putsch als »Affektreaktion« auf ein Komplott zwischen Gorbatschow und Jelzin hinstellte. Pawlows Aussage entbehrte nicht einer gewissen Logik: Am 20. August 1991 sollte ein neuer Unionsvertrag unterzeichnet werden, der die UdSSR dem auszuliefern schien, was später das Etikett GUS trug. Vor allem aber hatte die Moskauer Zentralregierung damit zu rechnen, in ihren Kompetenzen künftig empfindlich beschnitten zu sein. Für Präsident Gorbatschow galt dieses Agreement als Kompromiss zur Rettung der Union - für Vizepräsident Janajew und die anderen Verschwörer als ultimative Entscheidung für deren Demontage. Man darf nicht vergessen, wie schwer der Staat UdSSR im August 1991 bereits gezeichnet war: Der Warschauer Pakt hatte sich aufgelöst, der Unabhängigkeitsdrang innerhalb der Unionsrepubliken ließ sich nicht mehr aufhalten (Litauen, Lettland und Estland waren bereits ausgeschert), Nationalitätenkonflikte eskalierten, die anfangs noch sozialistische Grundierung der Perestroika wich dem Slogan »sapad, eto charascho« (»der Westen ist das Gute«), die Versorgungslage glich einer Katastrophe.

Die unvermeidliche Aufgabe der Sowjetunion ergab sich zwingend aus ihrer Agonie oder anders formuliert: aus einer nicht mehr beherrschbaren Dynamik der Perestroika, deren reformerische Radikalität das vorhandene Gesellschaftsgefüge gesprengt hatte. Der 1985 begonnene Umbau des sowjetischen Staatssozialismus endete mit dessen Abriss. Aber was mindestens genauso ins Gewicht fiel: Im August 1991 war auch die von Gorbatschow mit der Perestroika erstrebte Modernisierung - sprich: »Europäisierung« - der Sowjetunion gescheitert.

Seine Idee vom Gemeinsamen Europäischen Haus war angesichts der thermonuklearen Bedrohung zwischen Ost und West stets als Plädoyer für gemeinsame Sicherheit gedeutet worden. Gemeint war damit aber auch, dass sich die eurasische Supermacht UdSSR in diesem Haus einzurichten und damit auf viele ihrer bisherigen Eigenheiten zu verzichten gedachte. Der europäische Eignungstest für das politische System sollte mit dem Adjektiv »demokratisch«, der für das ökonomische mit dem Adjektiv »wettbewerbsfähig« bestanden werden. Letzteres jedoch hätte verlangt, die Wirtschaft der Sowjetunion nicht länger dem Primat der Politik unterzuordnen, ihre Ressourcen und strategischen Potentiale nicht vorrangig als Instrument des Militärisch-Industriellen Komplexes und der Landesverteidigung zu betrachten. Doch Gorbatschow konnte sich letztlich nie zum Aufbrechen dieses Dualismus zwischen Politik und Ökonomie, wie er 70 Jahre UdSSR geprägt hatte, durchringen. Er befürchtete nicht zu Unrecht, damit das Land zu entkräften, internationale Handlungsfähigkeit zu verspielen und in den Augen der USA und des Westens die Statur einer satisfaktionsfähigen Partners einzubüßen. So wie es später für das Russland Boris Jelzins und Wladimir Putins auch eintrat.

Es war das Dilemma einer »Europäisierung der Sowjetunion«, dass es dazu nach dem Verlust der eigenen Verbündeten 1990/91 erst recht keine Alternative mehr gab, sie aber zugleich ohne ökonomisches Rückgrat nicht stattfinden konnte. Eine Umkehr war unter diesen Bedingungen nur als Rückkehr nach Russland denkbar. Boris Jelzin hatte das früher und klarer als alle anderen erkannt und in einem lavierenden, das Unvermeidliche hinaus zögernden Gorbatschow den besten Verbündeten, den er sich wünschen konnte.

Insofern irrte Ex-Premier Walentin Pawlow mit der zitierten Aussage seinerzeit durchaus nicht. Er präsentierte zwar keine Beweise für seine Verschwörungstheorie, aber die Indizien waren eindeutig.

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