Völlig zu Unrecht, offenbar situationsbedingt, gerät in diesen Tagen die Erinnerung an die Endphase des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren in den Hintergrund. Das gilt auch für die von alliierten Truppen befreiten Konzentrationslager, unter anderem Buchenwald am 11. April 1945, Bergen-Belsen am 15. April, Sachsenhausen am 22. und Dachau am 29. April, um nur einige herauszugreifen.
Überall gab es die gleichen betäubenden, grauenvollen Bilder – Berge von Leichen, unter den Überlebenden die vielen zum Skelett Abgemagerten und Todkranken. Am Rand des Lagers Dachau stieß das 157. US-Infanterieregiment auf den „Buchenwald-Zug“, mit Opfern der „Evakuierungen“, zu denen es kam, sobald im Osten die Rote Armee oder in West- und Mitteldeutschland Amerikaner und Briten an die Lager heranrückten. Welche Waggontür die Soldaten in Dachau auch aufstießen – nur Tote, mehr als 2.300 Menschen, die man einfach verhungern ließ. Hat die Geschichte damit kein Urteil über das deutsche Volk gesprochen, so doch darüber, was in seinem Namen möglich war.
Unmittelbar nach der Befreiung galt der Blick auf die Täter zunächst der SS und dem Reichssicherheitshauptamt, den Lagerkommandanten, Blockführern und Wachmannschaften oder Lagerärzten, die im Auftrag der SS Experimente an Häftlingen vornahmen, die vielfach qualvollen Tod bedeuteten oder eine lebenslange Schädigung zur Folge hatten. Doch waren die Lager ab Mitte der 1930er Jahre, nachdem am 30. Juni 1934 die SA mit dem Schlag gegen Ernst Röhm und der Exekution eines Teils ihrer Führer entmachtet war, Himmlers SS übergeben worden. Und die machte damit zusehends auch wirtschaftliche Ambitionen geltend.
Standort Auschwitz-Monowitz
Zehntausende, nach 1939 Hunderttausende von Häftlingen wurden als billige, misshandelte, todgeweihte, jederzeit ersetzbare Arbeitssklaven ausgebeutet. Daran beteiligt waren namhafte deutsche Unternehmen, was besonders auf den IG Farben-Konzern zutraf. So wurde unweit des in Schlesien liegenden Konzentrationslagers Auschwitz ab 1941 mit Auschwitz-Monowitz ein separates Arbeitslager gebaut. Es sollte das gewünschte Heer an Arbeitskräften für das sich ebenfalls dort befindliche Buna-Werk der IG liefern, in dem Treibstoff und Kunstkautschuk für die deutsche Kriegswirtschaft erzeugt wurden.
IG-Vorstandsmitglied Otto Ambros hatte sich für diesen Standort u.a. deshalb entschieden, weil der von den Bombenflotten der USA und Großbritanniens kaum zu erreichen war, solange deren Armeen nicht auf dem europäischen Kontinent gelandet waren, um über Start- und Landeplätze für ihre Lufteinheiten zu verfügen.
Einer von vier
Noch Ende 1944, kurz bevor wegen der vorrückenden Roten Armee die Evakuierung von Auschwitz begann, arbeiteten im Buna-Werk etwa 10.000 Häftlinge. Die Zahl derer, die bis dahin in Auschwitz-Monowitz ums Leben kamen, lag bei mehr als 30.000. Es starb in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau, wer von den Häftlingen bei der monatlichen Selektion als „nicht mehr arbeitsfähig“ eingestuft wurde. Andere verloren ihr Leben wegen der völlig unzureichenden Ernährung, durch Erfrierung oder Krankheit sowie fehlende Sicherheitsvorrichtungen. Von vier Gefangenen hat einer überlebt, ergab eine nach dem Krieg mögliche Bestandsaufnahme der Todesraten in Monowitz.
Die IG Farben-Filiale im Osten interessierte freilich nur ein Kriterium, das für die Behandlung der rekrutierten Zwangsarbeiter ausschlaggebend war: deren Arbeitsfähigkeit. Die sollte solange erhalten bleiben, bis die SS für den nötigen „Nachschub“ sorgte. Pro Tag zahlte die IG für einen Häftling vier Reichsmark an das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt, drei waren es, sofern es sich um „ungelernte Arbeiter“ handelte, die zu Hilfsdiensten gebraucht wurden.
Regisseur Bernhard Sinkel schildert in seinem 1986 ausgestrahlten Fernseh-Mehrteiler Väter und Söhne über die als Familiensaga dargestellte Geschichte des größten jemals existierenden deutschen Chemie-Unternehmens in einer Szene, wie die Direktion von Monowitz mit der SS verkehrte. Ein leitender Mitarbeiter diktiert einen Brief an die Lagerleitung von Auschwitz: „Bedauerlich ist, dass die Gestapo und die SS bei der Behandlung der Arbeitsbummelei nicht so prompt reagieren, wie es von uns gewünscht wird. Bezüglich der Behandlung der Häftlinge war ich stets dagegen, dass Häftlinge auf der Baustelle erschossen oder halbtot geschlagen werden. Ich stehe jedoch auf dem Standpunkt, dass eine Züchtigung in gemäßigten Formen unbedingt notwenig ist ...“
Sinkel weist in einer kurzen Szene, die auf eine Vorstandssitzung des Konzerns folgt, auch darauf hin, dass die IG mit 42,5 Prozent an der Firma Degesch beteiligt war, die das Zyklon B für die Gaskammern von Auschwitz herstellte.
Zehn Freisprüche
Der von der IG Farben zu verantwortete Massenmord in Auschwitz stellte ein derart monströses Verbrechen dar, dass Sühne nur Bestrafung bedeuten konnte. Ab August 1947 standen 23 leitende Mitarbeiter des Konzerns vor einem Gericht der Alliierten in Nürnberg. Sie wurden beschuldigt, Kriegsverbrechen begangen zu haben – für die Planung und Führung von Angriffskriegen, für Raub und Plünderung, für Versklavung und Massenmord verantwortlich zu sein.
Die Anklagepunkte unterschieden sich nur unwesentlich von dem, was im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess ab September 1945 Göring, Hess, Kaltenbrunner, Keitel usw. zur Last gelegt wurde. Allerdings wird der IG-Farben-Prozess 1947/48, je länger er dauert, vom beginnenden Kalten Krieg überschattet und von der sich abzeichnenden Bildung eines deutschen Separatstaates in den drei westlichen Besatzungszonen beeinflusst. So fallen die am 30. Juli 1948 gesprochenen Urteile – es gab zehn Freisprüche – nicht nur vergleichsweise milde aus. Die Strafen werden durchweg ausgesetzt, nachdem zwei oder drei Jahre verbüßt worden sind.
Zum Vorbild erklärt
Georg von Schnitzler, letzter Vorstandschef der IG Farben-Zentrale in Frankfurt/Main und zu fünf Jahre Gefängnis verurteilt, wird bereits 1949 entlassen. Carl Krauch, Aufsichtsratsvorsitzender der IG und als Chef des Reichsamtes für Wirtschaftsausbau einer der maßgeblichen Wirtschaftsmanager des NS-Regimes, erhält sechs Jahre Gefängnis und ist Anfang 1950 wieder auf freiem Fuß. Und das, obwohl Krauch ausdrücklich wegen des menschenverachtenden Umgangs mit den Häftlingen in Auschwitz-Monowitz verurteilt worden ist. Nach der Haftverschonung sitzt er schon bald im Aufsichtsrat der Chemischen Werke Hüls AG.
IG-Vorstandsmitglied Otto Ambros, der die Entscheidung für den Standort der IG Auschwitz traf und mit der SS die Modalitäten aushandelte, sollte acht Jahre ins Gefängnis, wird aber 1952 entlassen und ist danach als Berater von Kanzler Konrad Adenauer und des Industriellen Friedrich Flick geschätzt.
Verwiesen sei noch auf Fritz ter Meer: Den verantwortlichen Direktor für die IG Auschwitz, NSDAP-Mitglied und Ritterkreuzträger, will das Nürnberger Tribunal 1948 für sieben Jahre ins Gefängnis schicken, doch bereits im Sommer 1950 wird ter Meer wegen „guter Führung“ vorzeitig aus der Zelle geholt. Er wird gebraucht, etwa ab 1956 als Aufsichtsratsvorsitzender der Bayer AG, eine Firma, die ab 1925 zur IG Farben gehört hatte.
In ihrem Nachruf auf Fritz ter Meer schrieben die Farbenfabriken Bayer AG 1967, „seine starke und zugleich beherrschte Persönlichkeit, seine hohen menschlichen Eigenschaften und seine aufrechte charakterliche Haltung“ hätten ihn „zum Vorbild der jüngeren Generation“ werden lassen.
Die Kontinuität der NS-Eliten war keine Begleiterscheinung, sondern ein Markenzeichen der frühen Bundesrepublik. Nicht nur die Mitläufer, vor allem die Täter des NS-Staates konnten vielfach ihre Karrieren fortsetzen und sich erneut etablieren – sei es im Staat bzw. im Regierungsapparat, in der Wirtschaft, in der Justiz oder in der Bundeswehr.
Historische Amnesie
Dass dieses Fundament einmal gelegt war, daran konnten auch die politischen Protagonisten der 68er und die von ihnen ausgehende kritische Aufarbeitung der NS-Zeit nichts ändern. Insofern ist es nicht nur eine Verfälschung historischer Tatsachen, auch ein Zeichen von bedenklicher Amnesie, wenn in einem am 19. April vom Deutschlandfunk in der Reihe Hintergrund ausgestrahlten Feature davon die Rede ist, es habe „nach dem Krieg beiderseits (gemeint sind BRD und DDR, lh) personelle Kontinuitäten“ gegeben – „und die wenigsten Täter wurden zur Verantwortung gezogen“.
Das trifft auf den bundesdeutschen Umgang mit diesem Erbe gewiss zu, nicht aber auf die Praxis im Osten Deutschlands. Dort wurden in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nach 1945 allein 520.000 „Belastete“, wie es seinerzeit hieß, aus dem öffentlichen Dienst und der Industrie entfernt, im Schuldienst traf das auf mehr als 28.500 Lehrkräfte zu. Und schon im Frühjahr 1946 waren in der SBZ die NSDAP-Mitglieder unter den Richtern und Staatsanwälten ausnahmslos aus dem Justizapparat entlassen.
Es würde zu weit gehen, dies hier weiter auszuführen. Die angeführte Gleichsetzung im Umgang mit NS-Tätern in Ost und West folgt offenbar der Absicht, die schweren, nicht mehr zu korrigierenden und gegenüber den Opfern nicht zu rechtfertigenden Versäumnisse zu relativieren. Man kann das nur beschämt zur Kenntnis nehmen.
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