Volk, du bist groß!

Plebiszitärer Eifer Europa hat gerade den denkbar schlechtesten Leumund. Trotzdem bringen führende Politiker der Regierungskoalition einen Volksentscheid über die EU ins Gespräch
Europas Sternen geht die Strahlkraft verloren
Europas Sternen geht die Strahlkraft verloren

Foto: Johannes Eisele / AFP - Getty Images

Noch nie wurde in der Bundesrepublik Deutschland das Volk über irgendein Vorhaben zur europäischen Integration befragt. Weder beim Vertrag von Maastricht und Euro-Projekt von 1992, noch bei der Osterweiterung 2004, auch nicht bei der gescheiterten EU-Verfassung 2005 oder beim Lissabon-Vertrag wenig später. Nie haben Regierung und Legislative auch nur erwogen, sich plebiszitärer Fürsprache zu versichern. Man konnte sich auf das Grundgesetz berufen. Dessen Autoren hatten in Erinnerung an Hitlers „Volksentscheide“ dem Volkswillen misstraut und auf den Wahlakt reduziert, mit dem über Parlamente von der Kommune bis zum Bundestag aufwärts befunden wird.

Volk, entscheide du!

In Sachen Europa hatte das Volk zu erdulden, worüber in seinem Namen entschieden wurde, und mit den Konsequenzen zu leben. Um so mehr reibt man sich jetzt die Augen. Plötzlich wird ein Referendum „über die politische Zukunft der EU“ (Brüderle) zu einer Art kategorischem Imperativ stilisiert. Finanzminister Schäuble hat sich dafür ausgesprochen, FDP-Fraktionschef Brüderle hält es für notwendig – der bayerische Ministerpräsident Seehofer erklärt gar die Bundestagswahl 2013 zu einer Volksabstimmung über Europa. Womit hat man es da zu tun? Mit einer demokratischen oder einer eher demagogischen Obsession?

Richtig ist, dass die Karlsruher Verfassungsrichter mit ihrer im September anstehenden Entscheidung über den Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM auch darüber Auskunft geben werden, inwieweit damit das Grundgesetz ausgereizt und möglicherweise zu novellieren ist. Nur wie und wann? Und wie und wann wird darüber per Referendum entschieden? In der aufgeheizten Atmosphäre eines Bundestagswahlkampfes? In welcher Abstimmung mit den EU- bzw. Euro-Partnern? Kann es denen gleichgültig sein, wie Deutschland Souveränität an eine EU-Exekutive abgibt, die von diesem Mitgliedsland dann mutmaßlich noch mehr dominiert wird, als das schon heute der Fall ist?

Längst sind hierzulande beim Thema EU und Eurokrise chauvinistische und nationalistische Untertöne bis an die Grenze zur Volksverhetzung üblich und Teil einer wenig appetitlichen Stimmungsmache. Das vereinte Europa hat den schlechtesten Leumund seiner gut 45-jährigen Geschichte. Soll es nun auf dem Altar des allgemeinen Volksempfindens geopfert werden? Jenes wird momentan maßgeblich von der Vorstellung geprägt, die Partner in Süd- und teils auch Osteuropa würden von Deutschland über Gebühr subventioniert, obwohl man damit Bilanzbetrügern, Defizitsündern und Schmarotzern einen Gefallen tut. Denen bleibe deshalb nur die Wahl, von deutscher Führungsmacht diszipliniert zu werden oder die Eurozone zu verlassen. Angesichts eines solchen Sounds der Euro-Debatte sind die Avancen Schäubles, Brüderles und Seehofers auf billigen Stimmenfang gerichtet: Volk, wir haben Dir gesagt, worum es geht! Volk, entscheide Du, wohin es geht!

Die schwarz-gelbe Regierung hat bei ihrem Euro-Krisenmanagement seit 2010 mehr als einmal durch kopfloses Manövrieren und Ignoranz gegenüber dem europäischen Ganzen geglänzt. Sie hat ein ums andere Mal versprochen, den Euro ultimativ gerettet zu haben und sich entweder überschätzt, verkalkuliert oder gelogen. Und ausgerechnet jetzt, da die Gefahr eines Bruchs der Währungsunion mit Händen zu greifen und „das Volk“ verunsichert und von Europa bedient ist – da soll es mitreden? Was da zum demokratischen Votum erklärt würde, hätte unter den gegebenen Umständen wenig mit Demokratie zu tun.

Die anfallartige Hinwendung der Schäuble, Brüderle und Seehofer zum Europa-Referendum bestätigt einmal mehr den jüngst geäußerten Vorwurf des Luxemburger Premiers Jean-Claude Juncker: In Deutschland werde mit der Eurokrise Innenpolitik gemacht. Hinzu fügen ließe sich, dabei geht inzwischen viel Augenmaß verloren.

Ideelle Geschäftsgrundlage

Das zusammengefügte, nicht per Volksentscheid besiegelte Deutschland der Wiedervereinigung hat sich nach dem 3. Oktober 1990 nicht weiter mit nationaler Selbstfindung aufhalten müssen. Die kontinentale Supranationalität schien weit fortgeschritten. Einem Kernstaat der EU blieben die nationalen Hausaufgaben erspart, war doch seine europäische Verankerung über jeden Zweifel erhaben. Wirklich?

Ausgerechnet mit der supranationalen Währung und deren existenziellen Nöten kehren nationales Befinden und Begehren wie durch ein Druckluftventil zurück. Dies geschieht nicht etwa versteckt oder verschämt. Tonangebende Politiker der Regierungskoalition gefallen sich als Erziehungsdiktatoren ihrer ins Schleudern geratenen Partner und offenbaren eine historisch unverzeihliche Vergesslichkeit: Es waren Franzosen, Italiener, Briten, Niederländer und andere Nationen in Europa, die das monströser Verbrechen schuldige Deutschland nach dem Krieg nicht ächteten, sondern ihm auf die Beine halfen, auch durch generöse Kredite und gelöschte Schulden. Es galt als Vorzug des vereinten Europas, die Vergangenheit ruhen zu lassen und der Versöhnung zu vertrauen: Eine ideelle Geschäftsgrundlage der Integration und ein Deutschland gewährter Vertrauensvorschuss. Der scheint langsam, aber sicher aufgezehrt zu sein.

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