Vom Fall Libyen zum Ernstfall Syrien

Eskalation Der Abschuss des türkischen Kampfjets versetzt die NATO in keinerlei Beistandspflicht, ist aber eine Vorlage, um Interventionsszenarien durchzuspielen
Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan auf dem Weg zu einem Kabinettstreffen in Ankara, um die nächsten Schritte gegen Syrien zu diskutieren
Der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan auf dem Weg zu einem Kabinettstreffen in Ankara, um die nächsten Schritte gegen Syrien zu diskutieren

Foto: Adem Altan / AFP / Getty Images

Der NATO ist die türkische Karte im großen Poker um Syrien in den Schoß gefallen. Nur was sich damit anfangen lässt, erscheint unklar. Wenn ein türkischer Militärjet den syrischen Luftraum verletzt, kann schwerlich der Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrages aufgerufen werden. Auch leuchtet nicht ganz ein, weshalb Artikel 4 Anwendung finden sollte, wonach Konsultationen der 28 Mitgliedsstaaten geboten sind, wenn ein Mitglied der Allianz seine Sicherheit bedroht sieht. Schließlich war kein syrisches Flugzeug im türkischen Luftraum unterwegs. Auch hat die Regierung in Damaskus unmittelbar nach dem Vorfall erklärt, sie hege keinen feindseligen Absichten.

Vor dem ersten Schuss

Eher wäre eine Rüge an den NATO-Partner Türkei fällig. Durch eine derartige Aktion – ob vorsätzlich oder nicht – können die schwer angespannten türkisch-syrischen Beziehungen einer Zerreißprobe ausgesetzt werden, die sie nicht überstehen, so dass eine militärische Konfrontation kaum auszuschließen ist. Dann allerdings müsste die NATO nicht mehr darüber debattieren, wie sie mit ihrem Mitglied Türkei umzugehen hat. Ein bewaffneter Konflikt lässt sich nach Artikel 5 des NATO-Vertrages sehr wohl als Bündnis- und damit Beistandsfall deuten. Man könnte ohne Mandat des Sicherheitsrates handeln, hätte sich vom Beobachter zum Beteiligen des Geschehens befördert und einen Kombattanten-Status zuerkannt, über dessen Ausrichtung kein Zweifel bestehen dürfte. Doch sollte vor dem ersten auch der letzte Schuss bedacht werden.

Wer den abfeuert, hat einen Gegner in der Regel besiegt. Man darf dem Bündnis unterstellen, nach dem Libyen-Szenario genauso siegreich aus der Bataille um Syrien hervorgehen zu wollen. Sie hätte dann durch gewaltsame Parteinahme den nächsten Bürgerkrieg im arabischen Raum entschieden. Eine Art militärische Nachsorge, die dem Arabischen Frühling zuteil wird. Nur wann es soweit ist, welche Kräfte nötig, welche eigenen Opfer unvermeidlich sind, diese Fragen lassen sich durch Verweis auf den Fall Libyen für einen Ernstfall Syrien keineswegs beantworten. Feststeht nur – die syrische Armee ist von anderem strategischen Kaliber, als es die Streitkräfte Muammar al-Gaddafis für sich reklamieren konnten.

Kartell der Diplomatie

Der Nordatlantikpakt täte insofern gut daran, unkalkulierbare Risiken zu meiden, und sich stattdessen einer Idee des UN-Vermittlers Kofi Annan zu erinnern, der eine Syrien-Kontaktgruppe für unverzichtbar hält. Das hieße, alle Staaten in einem Kartell der Diplomatie zu vereinen, die am Syrien-Konflikt beteiligt, davon betroffen oder damit befasst sind. Dies öffnet gewiss keinen Königs-, aber einen sinnvollen Weg, um den längst internationalisierten Konflikt mit der angemessenen Internationalität auszustatten, soll das Feuer tatsächlich gelöscht und nicht bloß über lodernde Flammen geklagt werden. Es muss nicht lange gerätselt werden, wer da zu Tisch gebeten ist. Die fünf ständigen Mitglieder der Sicherheitsrates auf jeden Fall, dazu die Akteure auf beiden Seiten der syrisch-arabischen Front. Womit nicht nur die syrische Regierung und deren Gegner in Syrien gemeint sind, ebenso deren Verbündete: Iran und Irak auf der einen Seite – Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und eben die Türkei auf der anderen. Natürlich wäre in einer solchen Kontaktgruppe auch über Interessen zu reden, über Freund und Feind, Macht und Gewalt. Wenn das hier und da zu einem Offenbarungseid zwingt, sollte eine Kontaktgruppe daran nicht scheitern. Im Gegenteil, das Verfahren könnte den Blick dafür schärfen, dass es in Syrien um mehr geht als Machterhalt oder Machtverzicht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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