Von Verschwindsucht befallen

NATO-Gipfel In Afghanistan zerfällt die von der westlichen Allianz beanspruchte Weltordnungsmacht in Phasen eines beschleunigten Ausstiegs, wie er in Chicago abgesegnet wurde

Von Flucht zu sprechen, wäre übertrieben – auf eine deutlich verstärkte Absetzbewegung zu erkennen, jedoch keine aus der Luft gegriffene Deutung des Geschehens. Die beim Gipfel der westlichen Allianz in Chicago geprägte Formel vom „geordneten Rückzug“ kann schwerlich die Furcht überdecken, es könnte beim Exit kein Halten mehr geben, wenn Länder wie Frankreich und Australien vorpreschen und ihre Kontingente noch 2012 herausholen und gar nicht ausgemacht ist, wer ihnen folgt. Ein Wettlauf beim Abziehen scheint im Gange, nachdem einige Staaten vor gut elf Jahren gar nicht schnell genug ankommen konnten, dort unten in Afghanistan.

Es lohnt sich, an dieser Stelle daran zu erinnern, wer seinerzeit in Deutschland dafür die Verantwortung trug. Am 16. November 2001 wurde im Bundestag das erste Afghanistan-Mandat beschlossen und damit der erste Marschbefehl für ein deutsches Kontingent erteilt. Die Stimmung nach dem Votum beschreibt das Protokoll der damaligen Sitzung des 14. Deutschen Bundestages wie folgt: „Anhaltender Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/Die Grünen. Die Abgeordneten von SPD und Bündnis 90/Die Grünen erheben sich.“ Es war die Zeit, als SPD-Kanzler Schröder den Begriff von der „uneingeschränkten Solidarität“ mit den USA prägte. Dazu passten stehende Ovationen für das Abenteuer am Hindukusch, denen sich CDU/CSU und FDP nur deshalb verweigerten, weil sie in der Opposition waren und Gerhard Schröder des Votum zum Truppenversand nach Mittelasien mit der Vertrauensfrage verschränkt hatte. Nur die PDS sagte nein und blieb Antikriegspartei.

Kein vorzeitiger Abzug

Es wirkt insofern fast wie eine makabre Ironie der Geschichte, wenn die NATO-Regierungschefs beschließen, die Hauptroute für den Abzug führe durch das als Bundeswehr-Region geltende Nordafghanistan. Danach sei an eine Transitstrecke durch Usbekistan, Kasachstan und Russland bis nach Litauen und seinem Hafen Klaipeda gedacht. Welche Verantwortung damit den deutschen Soldaten aufgebürdet ist, steht außer Frage.

Diese Demission läuft auf die größte Logistik-Operation der US-Streitkräfte nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Irak-Ausstieg Ende 2011 hinaus. Etwa 120.000 Container mit militärischem Material und mehr als 75.000 Fahrzeuge müssen außer Landes gebracht, Stäbe und Büros aufgelöst, Militärbasen aufgegeben und von ihren möglicherweise giftigen Hinterlassenschaften entsorgt werden. Der afghanische Widerstand mit seinen lokalen Mudschaheddin-Verbänden dürfte kaum ergriffen und tatenlos zusehen, wenn sich der Gegner zurückzieht. Er wird in einem sich behäbig auf Straßen und Schienen fortbewegenden Abzugstross ein geeignetes Ziel erkennen. Dass die Bundeswehr mit ihrem Stationierungsnetz im Norden Afghanistans für den Schutz der Konvois aufzukommen hat, liegt auf der Hand. Wer sollte es – von den Amerikanern abgesehen – auch sonst tun? Damit scheint besiegelt, dass für die deutschen Kontingente kein vorzeitiger Abzug in Betracht kommt und eine Präsenz über das Jahr 2014 hinaus nicht ausgeschlossen ist. Notfalls sind gut gesicherte Abzugsrouten auch geeignete Aufmarschwege, falls in Afghanistan die Taliban zurückerobern, was sie 2001 an eine fremde Übermacht verloren haben – ihren Gottesstaat, ihr Kalifat in Mittelasien, ihr Recht, auf das Recht der Scharia zu vertrauen.

Post-2014-Mission

Es fällt auf, dass auf dem NATO-Gipfel kaum ein Wort darüber verloren wurde, dass die afghanische Nationalarmee (ANA) den Rückzug sichern könnte, wie das nach der erst im April zwischen Washington und Kabul vereinbarten Sicherheitspartnerschaft möglich wäre. Offenbar beschwört ein afghanischer Geleitschutz zusätzliche Gefahren herauf. Es wird nicht zu Unrecht vermutet, dass die Taliban in den Streitkräften über Gefolgsleute verfügen, die sich jederzeit als Fünfte Kolonnen mobilisieren lassen. Die Attentate und Selbstmordanschläge auf US-Soldaten während der vergangenen Monate legen davon beredt Zeugnis ab. Auch ein Indiz dafür, wie fragil jedes nationale Sicherheitsgefüge bleibt, und wie wenig es auch in dieser Hinsicht gelungen ist, ein besetztes Land zu befrieden.

Mit welcher Zukunft für Afghanistan der Nordatlantikpakt selbst rechnet, lässt sich Ziffer 6 der Gipfelerklärung von Chicago entnehmen. Dort ist von einer „Post-2014-Mission“ die Rede, die man sich einiges kosten lässt: Vier Milliarden Dollar pro Jahr. Zuviel, um daran zu glauben, dass lediglich an eine Restpräsenz von Truppenberatern gedacht ist, die irgendwann überflüssig sein könnte.

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