Wahlsieg Macrons: Lediglich ein Zeitgewinn

Meinung Der Amtsinhaber Emmanuel Macron hat sich in der Stichwahl durchgesetzt. Bei einer Gegnerin wie Marine Le Pen war er die zweitschlechteste Option. Das hat gereicht
Anhänger des französischen Präsidenten feiern vor dem Eiffelturm die Wiederwahl Emmanuel Macrons bei den Präsidentschaftswahlen (24.04.2022)
Anhänger des französischen Präsidenten feiern vor dem Eiffelturm die Wiederwahl Emmanuel Macrons bei den Präsidentschaftswahlen (24.04.2022)

Foto: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Diesem Wahlsieg fehlt der Glanz des Triumphs. Er bringt lediglich einen Zeitgewinn bis zu den nächsten inneren Zerreißproben. In Frankreich will eine Mehrheit der Bürger einen Wandel des politischen Systems. Doch sah man sich an diesem 24. April offenkundig erneut dazu gedrängt, mit Emmanuel Macron den Systemerhalt zu wählen, um einen Systemwechsel zu verhindern, wie er Marine Le Pen vorschwebt. Für das Land ist das keine Lösung, sondern nur die Fortschreibung des Problems. Es besteht in einer signifikanten Legitimationskrise der staatlichen Ordnung. Nach jüngsten Umfragen haben dazu bis zu 60 Prozent der Franzosen kein Vertrauen mehr.

Anschein von Verachtung

Wer nach den Gründen fragt, stößt auf die eingefahrenen Betriebsabläufe der V. Republik. Ihr Regime fördert durch die omnipotente Stellung des Präsidenten die Konzentration auf eine Person, die folgerichtig in die alleinige Verantwortung genommen wird, wenn einer gereizten öffentlichen Stimmung danach ist. Je länger Macron regiert hat, umso mehr wurde ihm das zum Nachteil, umso unwiderruflicher hat er Hass, Protest, Überdruss und Ablehnung auf sich gezogen.

Die lange hinausgezögerte Erklärung seiner erneuten Kandidatur, der fast vollständige Verzicht auf den eigenen Wahlkampf vor dem ersten Wahlgang am 10. April – das roch allzu sehr nach der Verachtung eines demokratischen Vorgangs, den der erste Mann des Staates als lästige Zumutung zu empfinden schien.

Gut 58 Prozent für Macron, das sind etwa acht Prozentpunkte weniger, verglichen mit den 66,1 Prozent beim Stechen gegen Le Pen am 7. Mai 2017. Sie kann als die Herausforderin für sich und ihre Partei erstmals über 40 Prozent Zustimmung landesweit verbuchen. Da auch die Wahlbeteiligung das Niveau von 2017 unterbietet, liegt es auf der Hand, dass Macron eine zweite Amtszeit ohne den Vertrauensvorschuss antritt, der ihm als dem erklärten Erneuerer vor fünf Jahren zuteilwurde.

Nur ist danach kaum etwas von dem gehalten worden, was seinerzeit versprochen war. Zu den gestundeten Reformen gehörte der Verzicht auf ein verändertes Wahlrecht, das dem Stimmenproporz mehr Rechnung trägt als dem Mehrheitsprinzip. Schließlich bleibt nach dem geltenden Reglement Parteien und Wählern regelmäßig die parlamentarische Präsenz versagt, die ihnen vom Stimmenanteil her zustehen müsste.

Winkt eine Cohabitation?

Ungeachtet dessen deutet einiges daraufhin, dass durch die anstehende Neuwahl der Nationalversammlung am 12. und 19. Juni das Ergebnis der Präsidentenwahl nicht automatisch bestätigt wird. Ausschlaggebend könnten die Wähler von Jean-Luc Melénchon und anderer linker Bewerber aus der ersten Runde sein. Muss außerdem Macrons Partei La République en Marche (LRM) Federn lassen und das in Größenordnungen, gibt es womöglich den Zwang zur Cohabitation wie in den späten 1980er Jahren zwischen dem sozialistischen Präsidenten François Mitterrand und dem neogaullistischen Premier Jacques Chirac. Das hieße, Macron müsste mit einem Regierungschef vorliebnehmen, der nicht aus seinem, sondern einem anderen, gegebenenfalls gegnerischen Lager kommt.

Wer könnte das sein? Le Pens Rassemblement National (RN) allein wird im ländlichen Raum und den Hochburgen im Norden nicht so viel Wahlkreise gewinnen, dass sie auf eine Mehrheit in der Legislative mit ihren 577 Sitzen rechnen darf. Allerdings konnte der RN beim ersten Wahlgang in seinem politischen Hinterland Zustimmungsraten von 60 bis 70 Prozent verbuchen. Und ob eine geschlossene Linke unter der Mélenchon-Partei La France Insoumise (LFI) wirklich zustande kommt und dann auch noch so stark wird, um Macron zu zwingen, sie bei der Regierungsbildung zu berücksichtigen, wird sich zeigen. Es ist zwar wünschenswerter, scheint aber kaum realistisch zu sein.

Frankreich war schon nach dem ersten Wahlgang dreigeteilt in ein linkes, rechtes und ultrarechtes Lager, nimmt man die hohe Zahl jetziger Stimmenthaltungen und ungültiger Stimmen hinzu, hat das die Stichwahl bestätigt. Macron bleibt im Amt, aber er wirkt nicht gestärkt, sondern wurde als zweitschlechteste Option durchgewinkt – mehr hingenommen als gewollt. Ihm stehen turbulente nächste Wochen bevor. Und Jahre wohl auch. Die Verteidigung seines Amtes flankiert eine Wechselstimmung, die sich Geltung verschaffen dürfte.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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