Wahlsieger Taliban

Afghanistan Die Demokratisierung Afghanistans ist um eine weitere Facette reicher. Stichwahlen um die Präsidentschaft wurden abgesagt, weil der Sieger schon feststeht

Medial wenig beachtet, hat Stanley McChrystal, der NATO-Oberkommandierende für Afghanistan, jüngst zwei Zahlen genannt: Man brauche, um nicht von den Taliban und ihren Verbündeten überrannt zu werden, eine Armee von 240.000 Mann und ein Polizeikorps von 160.000. Der US-General brachte diese Zahlen am 23. Oktober beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Bratislava zur Sprache.

Jeder dort wusste, der afghanische Staat ist außerstande, jemals derartige Kontingente zu rekrutieren. Das kann am Hindukusch nur einer. Was McChrystal in Wahrheit vortrug, waren keine Mindestquoten für die Einheimischen in Hamid Karsais Pfründestaat, sondern Zielmarken, denen sich das westliche Bündnis mit seinen Truppen annähern müsste, um die Taliban nach dem Prinzip Overkill in Schach zu halten. McChrystal gibt nicht den Fantasien unersättlicher Generalstäbler nach, sondern realistische Größenordnungen wieder, was allein durch die Tatsache belegt ist, dass Präsident Obama spätestens bis Ende 2009 darüber zu befinden hat, ob er das US-Afghanistan-Korps von derzeit 68.000 auf 108.000 Mann aufstockt. Für den Rest müssten dann – theoretisch – die Alliierten aufkommen.

Die 28 NATO-Verteidigungsminister wollten dazu in Bratislava keine Entscheidung fällen und entschieden sich fürs Aussitzen. Begründung: Man wolle Entschlüssen des Weißen Hauses über die künftige Strategie in Afghanistan nicht vorgreifen. Man müsse den Ausgang der Stichwahl um die afghanische Präsidentschaft abwarten. Es werde ein durch dieses Votum legitimierter Partner in Kabul gebraucht. Das Abwarten hat sich gelohnt. Die Stichwahl ist abgesagt, weil sie nicht einmal mehr eine Farce war, sondern schlichtweg überflüssig. Fragt sich nur, ob die Regierung Karsai dadurch legitimierter und der Partner ist, den die NATO braucht. Oder ob nicht ein solcher Staatschef delegitimierter denn je in seinem Amt verharrt.

An Legitimation gewonnen haben allein die Taliban. Sie können sich legitimierter denn je fühlen, eine Regierung zu stürzen, die ihr Mandat einem gigantischen Betrug verdankt. Und was legitimiert die USA und die NATO, sie daran zu hindern? Die Vereinten Nationen im Allgemeinen und ihr Afghanistan-Mandat im Besonderen? Deren Kabuler Resident Kai Eide hat die Wahlmanipulationen vom 20. August lange Zeit gedeckt. Ist die Besatzung durch die Mehrheit der Afghanen legitimiert? Wenn das so wäre, hätte das Karsai-Lager nicht in dem Maße tricksen müssen, wie das geschehen ist bei 25 Prozent aberkannten, weil gefälschten Stimmen nach dem Votum vom 20. August.

Der asymmetrische Krieg, der seit mehr als acht Jahren am Hindukusch geführt wird, ist nicht allein ein militärischer Konflikt – auch ein Schlagabtausch über Werte und Wertordnungen, säkulare und religiöse Republiken, Sittlichkeit und Moral, Selbst- und Fremdbestimmung, Demokratie und Tradition. Die ideellen Waffen des Westens sind dabei immer stumpfer geworden. Nach dieser Wahlfarce nähern sie sich dem Stadium der Unbrauchbarkeit. Es bleiben letzten Endes nur Zahlen wie die von Bratislava, in denen sich der Drang nach Selbstbehauptung auf fremder Erde spiegelt: 240.000 Mann werden gebraucht, um Afghanistan zu halten. Weshalb eigentlich?

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