Wandel durch Abschreckung

NATO Feinde schaffen mit noch mehr Waffen: Das Bündnis tut, was Trump sich wünscht
Ausgabe 41/2018
Welchen Feind vor Augen?
Welchen Feind vor Augen?

Foto: Christian Thiel/Imago

Man befindet sich nun einmal im Eskalationsmodus. Und wenn das so ist, steht nirgendwo geschrieben, dass Rüstungsprogramme, Großmanöver, neue NATO-Hauptquartiere und eine Semantik der Feindschaft allein geeignet sind, das gestörte Verhältnis zwischen Russland und dem Nordatlantikpakt weiter zu belasten. Im digitalen Zeitalter rechnen auch Cyberattacken zum Wechselspiel von Angriff und Verteidigung. Es war Generalsekretär Stoltenberg, der vor knapp einem Jahr – nach der Tagung der NATO-Verteidigungsminister Anfang November 2017 – davon sprach, dass sich die Allianz der Sicherheitslage im 21. Jahrhundert anpassen müsse. Darum solle es künftig allen 29 Mitgliedstaaten möglich sein, Cyberwaffen einzusetzen. „Angriffe in dieser militärischen Dimension können effektiver sein als konventionellere Attacken“, so Stoltenberg. Wer das als Kampfansage an Moskau verstand, erlag keinem Irrtum, zumal Russland seine stets als sakrosankt beschworenen Sicherheitsinteressen missachten würde, wäre es im Cyberspace der Konfrontation mit dem Westen nicht gewachsen.

Willfährige Demut

Wenn die wie im Augenblick eine Hochphase durchläuft, erscheint es durchaus glaubhaft, dass russische Hacker in die Informationssysteme von Staaten, Parteien oder der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) vorgestoßen sind, wie das soeben auf der Herbsttagung der NATO-Verteidigungsminister gerügt wurde. Die Erkenntnisse der Chemiewaffen-Inspektoren über den Einsatz von Giftgas können schließlich dazu dienen, westliche Militärschläge gegen Syrien zu rechtfertigen, wie es die zuletzt am 14. April gab. Obwohl sie nicht ins Visier der Angreifer gerieten, waren davon auch die im Bürgerkriegsland stationierten russischen Verbände betroffen. Will heißen: So angespannt, wie die Beziehungen zwischen Russland und der NATO gerade sind, wäre es höchst erstaunlich, bliebe der Cyber-Bereich unberührt.

Seit jeher gilt Spionage gegen Staaten und deren Sicherheitssysteme als probates Mittel, beide zu schwächen. Der Gebrauch erbeuteter Informationen ist geeignet, die nationale Sicherheit als Herzstück staatlicher Existenz zu untergraben und Regierungen die Entscheidungsfreiheit zu nehmen. Dabei geraten keineswegs nur gegnerische Objekte ins Visier, wie zu Zeiten der Obama-Administration Operationen der US-Geheimdienste gegen die Bundesregierung offenbart haben. Wenn also Generalsekretär Stoltenberg vor den NATO-Verteidigungsministern russische Cyberaktivitäten beklagt, fehlt ihm die gebotene Distanz zu seinem Job und Gewerbe. Er könnte ebenso monieren, dass Russland überhaupt eigene Streitkräfte unterhält.

Stoltenbergs Auftritt war beredtes Zeichen dafür, dass es derzeit ein Sakrileg zu sein scheint, gegenüber Russland die fatale Dynamik von Drohungen und Gegendrohungen, Aktion und Gegenaktion zu durchbrechen. Wenn dann auch noch ein US-Präsident die westliche Allianz für obsolet erklärt und mit Rückzug droht, hilft allein die Maxime: Feinde schaffen mit noch mehr Waffen. So wirkten die NATO-Verteidigungsminister in Brüssel wie beseelt vom Bedürfnis nach transatlantischer Harmonie. Trumps Amerika beschwichtigen durch die Demut der Willfährigen. So gut wie alle Mitgliedstaaten wollen bis 2024 mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für neue Waffen und modernisierte Armeen auszugeben. Wie das der US-Präsident beim NATO-Gipfel im Juli verlangt, gar von vier Prozent gesprochen, sich dann aber der Weisheit ergeben hatte (falls ihm das bewusst war): Rück lieber zurück eine Elle als vorwärts einen Zoll.

Es ist unübersehbar, dass Russland die Folgen der NATO-Osterweiterung zu kompensieren sucht, indem es die nicht passiv erduldet, sondern daraus strategischen Nutzen zieht. Das Ost-West-Verhältnis in Europa erfährt einen Wandel durch Abschreckung. So wirft die NATO Russland vor, den Marschflugkörper SSC-8 zu entwickeln, der Kernwaffen tragen und über 500 Kilometer weit fliegen kann. Träfe das zu, würde mit SSC-8 gegen den INF-Vertrag verstoßen, den die USA und UdSSR 1987 mit dem Ziel geschlossen hatten, alle bodengestützten Raketen mit Flugweiten zwischen 500 und 5.500 Kilometern zu eliminieren. Das Abkommen richtete sich gegen Folgen damaliger „NATO-Nachrüstung“, die zur Stationierung von Pershing-II-Raketen in Westeuropa führte, und gegen die sowjetische Reaktion darauf – eine Verlegung nuklearer Kurzstreckenwaffen auf DDR-Gebiet. Im Unterschied zu heute verfügte die Sowjetunion seinerzeit dank der Alliierten Polen, ČSSR, Ungarn, DDR und Bulgarien (eingeschränkt Rumänien) in ihrem geografischen Vorfeld über einen Verteidigungsgürtel. Der ging durch die NATO-Osterweiterung verloren und wurde durch Einkreisung ersetzt, die Russland aufgrund seiner Geschichte als Gefahr empfindet. Da kann eine nukleare Option – in welcher Form auch immer – entlastend wirken.

Im Sog der Konfrontation

In der Regel erdulden Großmächte den geostrategischen Abstieg nur, solange sie eigene Schwäche dazu zwingt. Ist die überwunden, wird Gegendruck erzeugt. Kernwaffen, die West- oder Mitteleuropa erreichen, sind eine Gewähr dafür. Russland schreckt ab, um darauf zu antworten, was die Gegenseite an Abschreckung aufbietet. Dazu zählen nicht nur die seit 2016 in Polen, Litauen, Lettland und Estland stationierten schnellen Panzerverbände der NATO, sondern ebenso die geplanten beiden neuen Hauptquartiere der Allianz, mit denen „die militärische Mobilität des Bündnisses verbessert“ werden soll, um in Europa Truppen schneller von West nach Osten zu verlegen als bisher. Damit ist eine Kehrtwende vollzogen, da nach 1990 die Zahl der Kommandozentralen zunächst von 33 und 7 reduziert wurde.

Es ist der helle Wahnsinn. Die europäische Mehrheit der NATO-Staaten ist unfähig, die historisch einmalige Chance zu ergreifen, sich von den USA durch einen radikalen Neuanfang in den Beziehungen mit Russland zu emanzipieren. Deutschland wäre allein durch sein geschichtliches Erbe im Osten des Kontinents zur Führung bei solcherart Selbstertüchtigung berufen. Stattdessen ergeben sich alle dem Sog der Konfrontation.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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