Warum ich kein Europäer mehr bin

Im fiktiven Gespräch Der Publizist und Diplomat Günter Gaus über nationale Identität und kulturelle Zusammengehörigkeit in Europa
Ausgabe 51/2017
Warum ich  kein Europäer mehr bin

Illustration: der Freitag

Das vereinte Europa existierte nach 1990 zunächst als Annahme oder Vision. Ost und West kamen sich näher, aber nicht gleich zusammen – der System- und Epochenbruch östlich der Elbe machte es möglich. Überlagert war diese Zäsur von der Frage, wie ein bis dato nicht vorhandener europäischer Staatenbund mit den nationalen Identitäten seiner Mitglieder umgehen würde, sollte er zustande kommen. Günter Gaus hat sich seinerzeit in Vorträgen, Artikeln und Interviews häufig dazu geäußert und dabei dem deutschen Part besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Warum nicht seine damalige Sicht im Lichte heutigen Wissens zitieren und darüber ins Gespräch kommen? Welche Zukunft hatte Europa vor 25 Jahren, als die Ansicht überwog, die werde es geben?

der Freitag: Herr Gaus, sind Sie betrübt über den zerrissenen Zustand des vereinten Europas oder überwiegt eine gewisse Genugtuung, im Recht gewesen zu sein? Sie haben schon frühzeitig vor falschen Erwartungen gewarnt.

Günter Gaus: Weder noch. Schon die EWG durchlief Phasen des Verfalls und ging doch nie zugrunde. Außerdem verfügte ich nach 1990 über keinerlei Gewissheiten, sondern versuchte lediglich dem Gefühl Ausdruck zu geben, wonach sich in Deutschland eine hochgestimmte Geschichtsdeutung zurückmeldete, bei der sich der Mensch wieder als historisches Wesen begriff, das Morgenluft wittert und die Alten mit ihren bösen Erfahrungen für überlebt hält. Die Ratio wirkte auf einmal ziemlich kleinlaut.

Damals haben Sie von einem Aufbruch der Gefühle gesprochen, aber war nicht die Europapolitik des Kanzlers Helmut Kohl geradezu ostentativ auf Rationalität bedacht?

Worauf kam es Kohl an? Er wollte Frankreich beschwichtigen und die Angst vor einem deutschen Europa nehmen. Er opferte den größten westdeutschen Nachkriegserfolg – die DM, der man gerade die Wiedervereinigung zu verdanken hatte. Nur war Kohl nie ein großer Ökonom und dürfte später erstaunt gewesen sein, das genaue Gegenteil dessen bewirkt zu haben, was er – ich sage: mutmaßlich – wollte. Der Euro verschaffte Deutschland eine Dominanz, die es so mit der DM nie gegeben hätte. Die EU kam in den zweifelhaften Genuss eines deutschen Euro-Nationalismus.

Zur Person

Günter Gaus (1929–2004) wechselte als Spiegel-Chefredakteur 1973 in die Politik und wurde erster Leiter der Ständigen Vertretung der BRD in der DDR. Bis 1981 handelte er diverse Verträge mit der Regierung in Ostberlin aus und setzte sich für eine Verständigung zwischen Ost und West ein. Nach der diplomatischen Karriere kehrte er in den Journalismus zurück und gehörte ab 1992 zu den Herausgebern des Freitag

Vielleicht konnte es gar nicht anders sein. Als Staat in der Mitte Europas nationale Identität zu bewahren, hieß nun einmal, sich durchzusetzen.

Hieß es lange Zeit nicht. In den Jahren nach 1945 hat es im geschlagenen Deutschland und anderswo die Ansicht gegeben, nicht wieder aus dem Auge zu verlieren, dass der Mantel der Geschichte, der viel Leid, Überforderung und Vergewaltigungen der Menschen verhüllt, auch als Leichentuch geschneidert ist. Der Defätismus gegenüber vermeintlichen historischen Geboten war eine Tugend, die den hinfälligen Menschen nach seinem Maß gedeihen lassen, nicht überfordern sollte.

Wer kann es sich leisten, eine Politik zu betreiben, die dem schwachen, hinfälligen Menschen Tribut zollt?

Jemand, der sich des Ikarus erinnert, der auf seinem Höhenflug der Sonne zu nahe kam.

Also entscheiden wir uns für den Dädalus, den Ikarus-Vater, als bekömmlichen Anti-Helden, der – mit den gleichen Flügeln wie der Sohn – die verstiegene Höhe meidet und überlebt.

Wir hatten uns einst genau dafür entschieden. Dem Übermut des Ikarus zu wehren, war nach den Katastrophen von 1918 und 1945 ein tonangebender kategorischer Imperativ in der westdeutschen Öffentlichkeit.

Wenn ich Sie bisher richtig verstanden habe: ein vorübergehender Imperativ. Was Sie bedauern oder gar beklagen.

Wofür ich auch ein begrenztes Verständnis habe, denn wer hatte schon 1989 mit diesem Umbruch in Osteuropa gerechnet? Man fühlte sich über Nacht herausgefordert, der Größe des Augenblicks durch geschichtsmächtige Größe gewachsen zu sein. Das eigene Gesellschaftsmodell triumphierte, ohne dass ein Stiefel fremden Boden betreten hatte.

Und expandierte nach Osten.

So glaubte man.

Und hat sich getäuscht?

Ein wenig schon.

Die Osterweiterung der EU legt das Gegenteil nahe.

Ja, als Vorgang, nicht von den Resultaten her. Zu fragen ist heute: Erreicht Europa nach dem Transit seines östlichen Teils wieder ein festes Ufer, auf dem eine gute Ordnung von gerechtfertigter Selbstverständlichkeit sich gründen wird?

Was meinen Sie damit?

Für mich ist gute Ordnung der Sammelbegriff für eine pluralistisch verfasste, friedfertige, den Menschenrechten entsprechende, den sozialen und ökologischen Problemen gewachsene Gemeinschaft von Staaten und Regionen.

Das klingt so normativ, dass man es getrost in die Präambel einer EU-Verfassung schreiben könnte, die es allerdings so schnell nicht geben dürfte, weil etliche EU-Staaten von einer solchen Magna Charta ihre nationale Identität verletzt fühlen.

Das ist anzunehmen, und darüber sollten wir uns nicht wundern. Wir haben zu lange als Neubeginn gefeiert, was tatsächlich auf eine Restauration europäischer Normalität hinauslief, zu der auch der gelegentliche Mord und Totschlag gehören.

Sie meinen Jugoslawien.

Auch, aber nicht vorrangig.

Was dann?

Erlauben Sie, dass ich hier etwas weiter aushole. Wenn wir die kulturelle Zusammengehörigkeit Europas beschwören, operieren wir mit unbestimmten, undeutlichen Begriffen. Diese Zusammengehörigkeit aus dem Fundament einer Bildung, die Antike, Christentum, Humanismus und Aufklärung umschließt, zählt wohl zu den wenigen Selbstverständlichkeiten, die von allen Teilungen des Kontinents nie aufgehoben wurden. Aber hat die Zusammengehörigkeit der Gebildeten das Unheil der Vergangenheit auch nur mildern können – außer vielleicht im Bewusstsein eines belesenen Nischenbewohners zur Hitler-Zeit, der sich im Besitz von etwas Besserem wusste, als es die damals gängigen Werte waren? Haben nicht gerade die Angehörigen der gebildeten Schichten mitgewirkt an der Unterdrückung der selbstverständlichen Auskünfte der europäischen Kultur durch ihre Formulierungshilfen bei den leichtgemachten Auskünften?

Schließt das ein, man sollte heutigen europäischen Heilsversprechen der Bildungsbürger misstrauen, weil denen als Klientel nicht zu trauen ist?

Man sollte ihrem Realitätssinn mit Skepsis begegnen, besonders was die Verhältnisse östlich der Elbe angeht. Man hat geglaubt, wenn man Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien oder Tschechien in die EU aufnimmt, ebnet man ihnen den Weg nach Europa. Als seien sie nicht immer Teil dieses Kontinents, seiner Geschichte, Kultur und – natürlich – seiner Identität gewesen, wie zerrissen und schwer definierbar die auch immer gewesen sein mag. Dieser Hochmut rächt sich jetzt, indem in Warschau oder Budapest den Deutschen die Diskurs-Hoheit über eine künftige EU bestritten wird.

Warum haben dann die Wendeeliten in Osteuropa die Parole ausgegeben: Wir wollen zurück nach Europa?

Um sich selbst zu schützen. Weil sie glaubten, das Wohlstandsversprechen des Systembruchs nur in und mit der EU erfüllen zu können. Das war reiner Pragmatismus und nivellierte mitnichten, was wir Gesinnung oder Bewusstsein nennen. Ich erinnere mich einer Episode vom September 1989, als ich in Krakau junge Polen traf und sie fragte, ob sie es Gorbatschow als Verdienst anrechneten, dass er gegen den polnischen Willen zu politischer Selbstbestimmung und dem Ausscheren aus dem Ostblock nichts unternahm. Und sie antworteten, für sie sei Gorbatschow zuallererst ein Russe und also ein Feind. Sie warteten fast sehnsüchtig auf die Schwierigkeiten, die die Sowjetunion bald haben werde, wenn sich die 50 Millionen Ukrainer baltisch benehmen würden – auch das gehört zu den nationalen Identitäten ...

... und lässt sich durch die europäische Erweckung offenbar nicht weichspülen. Hätte man auch deshalb auf den Ostzuschlag für die EU verzichten sollen?

Damit hätte der Westen sich selbst verleugnet, indem er über sich hinausgewachsen wäre. Die Versuchung war viel zu groß, sich dessen zu versichern, was einem 1989/90 buchstäblich in den Schoß gefallen war. Die EU so zu lassen, wie sie war, galt aus drei Gründen als obsolet. Erstens, Russland konnte sich seiner alten Verbündeten besinnen und wieder annähern. Zweitens, die konnten sich schneller radikalisieren als gedacht, sollten die ökonomischen Verhältnisse nicht abwerfen, was die Bevölkerung erwartete. Drittens, man wollte auf diesen Markt keinesfalls verzichten.

Was halten Sie von einem Europa der Vaterländer?

Die Muttersprache ist mehr als das Vaterland.

Das meinen Sie nicht im Ernst. Was ist davon übrig angesichts unseres anglisierten Wichtigtuer-Idioms?

Was ist von Vaterlandsgefühlen noch übrig? Hat sie der Mythos Europa nicht längst absorbiert?

Ich glaube, wenn man zum Begriff Nationalgefühl wechselt, durchaus einiges.

Auch da muss ich widersprechen. Ein Nationalgefühl zu haben, das nicht gleich als das schönste, höchste aller Gefühle daherkommt – das ist ein seltenes Phänomen. Regionale Bindungen, zumal in Deutschland, wirken stärker als Vorstellungen vom großen Ganzen und sind als Beschwörung von Heimat gerade noch erträglich.

Sie haben vor Jahren einen Essay mit den Worten überschrieben: „Warum ich kein Demokrat mehr bin“, und die politische Kultur der Gegenwart als Begründung angeführt. Würden Sie heute einem Europa-Essay den Titel geben: „Warum ich kein Europäer mehr bin“?

Wenn ich mich nach dem alten Adam und der alten Eva richten dürfte …

… die Sie stets zitieren, um auf das Unabänderliche der irdischen Grenzen des hinfälligen Menschen anzuspielen …

… in etwa. Also, wenn ich den alten Adam und die alte Eva dazu befragen könnte, würden sie mir vermutlich raten: Schreib, dass du kein Europäer mehr sein kannst. Tue es unsretwegen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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