Ursula von der Leyen, ab 1. Dezember im Amt, will in Brüssel eine „wahrhaft geopolitische Kommission“ führen, war zuletzt mehrfach zu hören. Europa müsse „die Sprache der Macht“ lernen. Was in der Konsequenz nur heißen kann: Wird die beherrscht, ist davon Gebrauch zu machen. Zu welchem Zweck und wo überall? Und nicht zuletzt – wie? Durch die extensive Machtprojektion einer EU-Militärunion und unter der Voraussetzung, dass geopolitisches Großmachtdenken nun auch für die EU mehr denn je gilt? Ein wenig inspirierter – um nicht zu sagen: restaurativer Ansatz –, der auf Muster zurückgreift, von denen sich die USA im Nahen Osten gerade befreien. Sollte von der Leyen diesen Ansatz verfolgen, wäre weiter zu fragen: Kennt die neue Kommissionspräsidentin den Zustand der EU? Ist der geeignet, sie als Global Player über ihre Wirtschafts- und Handelsmacht hinaus in Szene zu setzen?
Dritter Weg, dritte Kraft?
Seit geraumer Zeit bereits ist der 27-Staaten-Bund alles andere als ein monolithischer Machtblock, mit dem geostrategische Ambitionen bedient werden könnten. Ein unerledigter Brexit ist nicht nur Dauerthema, sondern taugt zur Dauerkrise. Erst jüngst hat der Dissens über eine mögliche EU-Aufnahme Albaniens und Nordmazedoniens gegensätzliche Positionen zu einer fortgesetzten Osterweiterung offenbart. Schließlich setzen Frankreich und Deutschland als EU-Kernstaaten voneinander abweichende sicherheitspolitische Prioritäten, wenn es um die künftige Ausrichtung der EU geht. Präsident Macron will, dass Frankreich als europäische Macht geopolitisch wirksam wird, indem es sich auf europäische Militärmacht – vorrangig eine EU-Verteidigungsunion – stützt. Die soll sich von transatlantischen Zwängen emanzipieren und weitgehend unabhängig von der NATO agieren. Deutschland hingegen ist als europäische Führungsmacht auf geopolitische Relevanz bedacht, ohne sich von der NATO abzusetzen. Im Gegenteil, Kanzlerin Merkel betrachtet – wohl auch als Antwort an Macron – die transatlantische Verankerung mehr denn je als Geschäftsgrundlage deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Sie hat sich dazu am 27. November vor dem Bundestag absolut bekenntnishaft geäußert
Wo will sich von der Leyen bei solcher Polarisierung mit ihrer „Sprache der Macht“ einsortieren? Auf einem dritten Weg als dritte Kraft? Zweifel sind angebracht, dass die Kommission in Gänze ihren Ehrgeiz teilt.
Nach oben offene Eskalationsskala
Die neue Kommissionspräsidentin verfolgt offenkundig vor allem ein Ziel: das Nachzügler-Dasein der EU zu beenden. Sie soll fortan in der Lage sein, um Pfründe und Einflusssphären mitzubieten, im Nahen und Mittleren Osten ebenso wie in der Asiatisch-Pazifischen Region. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat bekanntlich im Blick auf Deutschland Ähnliches empfohlen. Man solle sich in die aufgeheizte Systemrivalität zwischen den USA und China einklinken. Bleibt zu hoffen – sollte von der Leyen mit ihrer „wahrhaft geopolitischen Kommission“ ebenfalls darauf aus sein –, dass in Brüssel darüber Klarheit herrscht, was das bedeutet – worauf man sich einlässt. Die EU würde nicht als neutraler Akteur in indopazifischen Raum Präsenz zeigen, sondern als Partner der USA, als Partei in einem Konflikt mit einer nach oben offenen Eskalationsskala.
Wieder einmal zeigt sich, was für von der Leyens Begriff von Geopolitik schon als Verteidigungsministerin prägend war. Sie gibt einer räumlichen Dimension den Vorzug, der Suche nach Eingreif- und Einsatzgebieten für ein vor allem militärisches Engagement weltweit. Man denke an ihren Auftritt vor der Münchner Sicherheitskonferenz Ende Januar 2014, als es hieß, Deutschland müsse bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen als bisher. Augenscheinlich soll das nun auch für eine EU gelten, die der Maxime gehorcht: Mehr Geopolitik wagen, heißt machtpolitisch wirksam sein.
Nur ein Aufguss
Warum nicht nach all den Erfahrungen, die es mit Geopolitik im 20. und 21. Jahrhundert gegeben hat, einmal einen Ansatz vorziehen, der frei von Herrschaftswillen und machtpolitischem Kalkül ist? Warum nicht angesichts der gescheiterten Syrien-Politik des Westens als EU ein Wiederaufbauprogramm für Syrien auflegen, das keine Vorbedingungen kennt und allein den Menschen in diesem Land zugute kommt? Wo man doch sonst menschenrechtlich unschlagbar sein will.
Weshalb nicht eine Friedensinitiative für den Jemen anstoßen, die Saudi-Arabien in die Schranken weist und sich der Konfliktmoderation durch die Vereinten Nationen anschließt. Warum nicht EU-Aufnahmeverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien ausnahmsweise einmal nicht mit der machtpolitischen Begründung versehen, dass sich sonst Russland und China dieser Länder annehmen?
Statt von einer „Sprache der Macht“ zu schwadronieren, könnte von der Leyen einen anderen Ton anschlagen. Wie wäre es mit einem Bewusstsein dafür, was „geopolitischen Denken“ von Großmächten bis in die Gegenwart hinein alles angerichtet hat – in Indochina, im Irak, in Afghanistan, in Libyen, in Syrien, auf dem Balkan, in Korea, in der Ukraine.
Von Emmanuel Macrons Idee einer „Neugründung Europas“ ist von der Leyen weit entfernt. Was ihr vorschwebt, ist der (wievielte?) Aufguss geopolitischen Denkens. Eine Politik der westlichen Restauration, die von der Realitäten – auch denen innerhalb der EU – schon bald korrigiert werden dürfte.
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