Vor 30 Jahren beginnen die 100 Tage, von denen die DDR zu Tode erschüttert wird. Anfang Februar 1990 kehrt Premier Hans Modrow aus Moskau zurück und stimmt in den Kanon „Deutschland, einig Vaterland“ ein. Die DDR ist Geschichte, lange bevor sie als Staat das Zeitliche gesegnet hat.
Wir werden Aufbruch und Agonie in den anstehenden fünf Ausgaben unserer Serie „1989 – Jetzt!“ nicht nur nachzeichnen, sondern im Wissen um drei Jahrzehnte Einheitsgeschichte auf Nachbeben und Kollateralschäden zu sprechen kommen. Um möglichst authentisch zu sein, bedienen wir uns eines einzigartigen journalistischen Fundus und greifen auf vor 30 Jahren unter dem Eindruck des unmittelbaren Erlebens entstandene Reportagen, Essays und Interviews aus dem ostdeutschen Freitag-Vorgänger, der Wochenzeitung Sonntag, zurück. Eine Gewähr, um das Erinnern vor dem forschen Zugriff heutigen Zeitgeistes zu bewahren. Auch die Chroniken auf Seite 12 werden dem vorbehalten sein, was im Oktober und November 1989 geschah. Und das nicht nur in beiden deutschen Staaten.
Der Herbst des Umbruchs beginnt 1989 mit einem Schock und sorgt für die Gewissheit: Machterhalt heißt Gewalteinsatz. Zum 40. DDR-Jubiläum kommt es in Ostberlin zu Übergriffen von Staatssicherheit und Volkspolizei. Sie schrecken besonders all jene, die der DDR und ihrer Führung mit (noch) nicht erschöpfter Loyalität begegnen und das Land erhalten wollen, indem sie seinen Sozialismus verändern. Die Gemeinschaft der Gutwilligen tritt ein letztes Mal am 4. November bei der Kundgebung der 300.000 auf dem Ostberliner Alexanderplatz in Erscheinung, um bald darauf von den Geschehnissen überrollt zu werden. (Was besonders für die Bürgerrechtsbewegung gilt, auch wenn die es zunächst nicht wahrhaben will.) Als es in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 zu einer chaotischen, kopflosen und kurzsichtigen Grenzöffnung kommt, ist einer Gesellschaft, die um ihrer selbst willen aufatmet, die Luft zum Atmen schon wieder genommen. Aus Sicht der damaligen SED-Führung sollte es ein Befreiungsschlag sein – er wirkte wie ein gegen die DDR gerichteter Staatsstreich. Ist Reisefreiheit daran gebunden, dass ein Staat Grenzen und Souveränität aufgibt?
Mit dem 9. November 1989 beginnt die Fremdbestimmung des Wendeherbstes. Der Niedergang der Staatspartei hinterlässt einen Scherbenhaufen. Frappierend und aufschlussreich zugleich, wie rasant in sich geschlossene, scheinbar hyperstabile Systeme kollabieren. Die moralische Delegitimation des „Sozialismus in den Farben der DDR“ (Erich Honecker) beschleunigt den institutionellen Verfall. Die heraufziehende deutsche Einheit ist die historische Konsequenz aus dem Scheitern eines Sozialismus, der ausgerechnet auf deutschem Boden viel erreichen wollte, aber seinen Feinden mehr als seinen Möglichkeiten gerecht wurde. Nur als sozialistischer Staat besaß die DDR ein Daseinsrecht, für eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen BRD fehlte es an nationaler Identität, wie sie Polen, Ungarn und andere Staaten einen Systemwechsel ohne Verlust an territorialer Integrität durchlaufen ließ.
Wird heute das Phänomen des Failed State im Nahen Osten oder Nordafrika verortet, ist das geschichtsvergessen. Es taucht bereits um 1990 in Mittel-, Ost- und Südosteuropa auf – mit der späten, der D-Mark ausgesetzten DDR ebenso wie mit der sich selbst aufgebenden Sowjetunion. Ganz zu schweigen von einem Bürgerkrieg, Selbstzerstörung und Massenmord verfallenden Jugoslawien. Drei Beispiele, die gleichsam bezeugen, wie seinerzeit das System von Jalta zerbrach, mit dem seit 1945 ein – zugegeben mühevoll aufrechterhaltenes – europäisches Gleichgewicht gesichert wurde. Es konnte sich eines Vertragswerks der kleinen Schritte rühmen, die geeignet waren, die große Balance zu wahren. Oberstes Prinzip war die Unverletzlichkeit der Grenzen, die gezogen wurden, als der Verlust jedweder Balance die Menschen zwischen 1939 und 1945 in einen Abgrund gerissen hatte, aus dem es nur allzu oft kein Entrinnen mehr gab.
Die vor 70 Jahren gegründete DDR ließen die bitteren Erfahrungen vieler ihrer Bürger in zwei Weltkriegen nicht gleichgültig. In ihrer Hymne hieß es: „Laßt das Licht des Friedens scheinen, / daß nie eine Mutter mehr / ihren Sohn beweint“. Wenn einst jeden Mittwoch um 13.00 Uhr landesweit die Sirenen heulten, um getestet zu werden, wussten die Älteren, weshalb sie aufschreckten. Gab es so etwas wie eine internationale Dignität des zweiten deutschen Staates, resultierte sie aus dem Willen, den Frieden als wichtigsten Wert jedes menschlichen Lebens zu betrachten. Mittlerweile werden Grenzen nach Herzenslust missachtet und überrannt. Insofern kann nicht nur Genugtuung verpflichtend, sondern muss auch Beklommenheit erlaubt sein, wird die Grenzöffnung vom 9. November 1989 als sinngebende Initiation des verbliebenen deutschen Staates beschworen, der ein Nachfolgestaat von so vielem ist.
Nicht zuletzt darüber soll mit der Freitag-Serie nachgedacht werden, auch deshalb nennen wir sie „1989 – Jetzt!“. Der Abstand von 30 Jahren – historisch gesehen eine Winzigkeit – legt nahe, der Geschichte zu misstrauen, will sie Endgültiges vollbracht haben. Wem Rehabilitierung zu weit geht, dem sollte wenigstens an einem unvoreingenommeneren Urteilen über die DDR gelegen sein.Es wäre dem inneren Frieden zuträglich.
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