Wem nützte Arafats Tod?

Palästina Wurde der einstige PLO-Führer vergiftet oder nicht? Er war zwar 2004 politisch angeschlagen, doch heute würden ihn die Palästinenser ebenso wie die Israelis brauchen
Wem nützte Arafats Tod?

Foto: Abbas Momani/ AFP/ Getty Images

Die palästinensische Autonomiebehörde wird sich entscheiden müssen: Wie geht sie um mit dem Untersuchungsbericht der Schweizer Experten aus Lausanne? Deren Analyse von Gewebeproben, die am exhumierten Leichnam Yassir Arafats genommen wurden, ließen auf eine Vergiftung durch Polonium 210 schließen, heißt es. Sollte dieser Befund durch das noch ausstehende französisches Gutachten bestätigt werden, wäre das schockierend. Es würde die Annahme genährt, Arafat starb am 11. November 2004 eines gewaltsamen Todes.

Für eine permanent unter Hochspannung stehende Region ist kaum eine brisantere Nachricht denkbar. Dies gilt um so mehr, als die Schweizer Ermittler ergänzend mitteilen: Das hochradioaktive Gift müsse in einem Atomreaktor produziert worden sein. Wer verfügt darüber in der Westbank oder im Gazastreifen? Niemand! Wer in der Nachbarschaft, der engeren oder weiteren? Einige!

Wenn sich die Anzeichen verdichten, dass Yassir Arafat einem Komplott zum Opfer fiel, kann sich die palästinensische Führung schwerlich in ein ambivalentes Bedauern flüchten. Sie wird Position beziehen müssen, auch wenn nicht sie, sondern Arafats Witwe Suha at-Tawil Exhumierung und Expertise veranlasst hat. Zwangsläufig stellt sich die Frage nach den Hintergründen wie den Tätern. Gab es wirklich einen Anschlag auf das Leben des PLO-Chefs, kommen dafür letztlich nur zwei Möglichkeiten in Betracht – Rivalitäten unter den Palästinensern oder das trotz aller Bekenntnisse zur Verständigung gespannt bis feindselige Verhältnis zu Israel.

Zurück zu den Anfängen?

Was ist im Jahr 2004 geschehen? Spekulationen helfen nicht weiter. Trotzdem muss die Erinnerung erlaubt sein, dass sich vor knapp einem Jahrzehnt in Ramallah am Sitz der Autonomiebehörde der Eindruck verfestigt haben könnte, der Nimbus des Ra'is sei ebenso verbraucht wie sein Glaube an einen erfolgsträchtigen Dialog mit den Israelis. 1988 hatte das palästinensische Exilparlament auf Betreiben Arafats die UN-Resolutionen 242 und 338 anerkannt, in denen das Existenzrecht aller Staaten des Nahen Ostens, also auch Israels, festgeschrieben war.

Danach schien es nahezu ausgeschlossen, dass Arafat noch einmal die militante Radikalität des "Alles oder Nichts" seiner Bewegung beleben konnte, wie sie für die siebziger Jahre typisch war. Seinerzeit verstand sich die PLO mit ihren Basen im Libanon und darüber hinaus als Befreiungsarmee, die einem israelischen Staat das Existenzrecht bestritt und terroristische Mittel nicht scheute.

2004 jedoch war die PLO als Dachorganisation palästinensischer Selbstfindung international anerkannt und besaß einen Beobachterstatus in der UNO. Sie konnte sich nur mit politischen Mitteln behaupten und nicht zu alten Obsessionen zurückkehren. Was die Israelis möglicherweise als strategischen Vorteil verbuchten. Jedenfalls fiel es ihnen nicht sonderlich schwer, sich Mitte der neunziger Jahre vom Oslo-Prozess zu verabschieden, der Agreements begünstigt hatte, wie sie seit Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 noch nie zustande kamen.

Wer wollte ihn ablösen?

Gab es jemanden, der sich in der palästinensischen Führung berufen fühlte, Arafat abzulösen, weil der zum Gefangenen seines eigenen, 1988 eingeschlagenen Weges zu werden drohte? Vielleicht Marwan Barghouti, der Fatah-Führer des Westjordanlandes? Doch der saß 2004 in einem israelischen Gefängnis eine Haftstrafe ab. Ansonsten haben sich nach dem 11. November 2004, Arafats Sterbetag, in der Autonomieverwaltung Politiker etabliert, die als Erben eines charismatischen Führer viel, zu viel, schuldig blieben. Sie wirkten oft wenig überzeugend, agierten unglücklich und hilflos. Niemand wird Mahmud Abbas die Last seiner Mission oder seines Amts bestreiten. Aber seine Hände sind mindestens so leer wie die Arafats kurz vor seinem Tod. Abbas blieb als Präsident ohne Staat ein Getriebener von Ereignissen, die er immer seltener beeinflussen konnte.

Sicher, ein Palästinenser-Staat findet heute weltweit so viele Befürworter wie noch nie. Doch könnten die Realitäten in der Westbank – vor allem Israels Besatzungs- und Siedlungsregime – für einen solchen Staat nicht ungünstiger sein. Er wird weder morgen noch übermorgen noch in einem Jahr aus der Taufe gehoben, weder als Völkerrechtssubjekt noch als administrative Autorität noch mit einem ausreichenden Territorium noch mit der ökonomischen Substanz, die sein Üerleben sichert.

Die Chancen dafür sind 2013 schlechter als 2004. Mit anderen Worten, sollten palästinensische Verschwörer für Arafats Tod verantwortlich sein, weil sie ihn ablösen wollten, fällt ihre Bilanz so missraten aus, dass sie als Täter wenig glaubhaft wirken.

Niemandem in Ramallah ist es gelungen, aus Arafats Schatten zu treten. Der sitzt bis heute unsichtbar an jedem Verhandlungstisch. In seiner Person vereinigen sich nach wie vor Geschichte und Gegenwart der palästinensischen Nationalbewegung. Was im Sommer 2000 auf dem von US-Präsident Bill Clinton einberufenen Camp-David-Gipfel auf der Agenda gestanden hat, prägt weiter jeden palästinensisch-israelischen Verhandlungsversuch: Angefangen von einem Staat, dessen Gebiet Israel dazu zwingen würde, sich auf die Grenzen von 1967 zurückzuziehen, über die Forderung nach Jerusalem als Hauptstadt und ein Ende der Siedlungspolitik, bis zu einem Rückkehrrecht für Hunderttausende Palästinenser, die 1947/48 vertrieben wurden.

Der damalige israelische Premier Ehud Barak wollte in Camp David bei all diesen Punkten Arafat nicht soweit entgegenkommen, dass der vertretbare Kompromisse eingehen konnte. Seither hat es kein Abkommen zwischen Palästinensern und Israelis mehr gegeben – dafür aber Stagnation, Frust und verhärtete Fronten.

Die einzige Garantie

Yassir Arafat hatte allen Grund zu behaupten, wenn es einmal soweit sein sollte, dann könne nur seine Unterschrift unter einen Friedensvertrag mit Israel garantieren, dass ein Jahrhundertkonflikt tatsächlich beendet werde. Nur er könne dafür bürgen, dass eingehalten wird, worauf man sich geeinigt hat. Neun Jahre nach seinem natürlichen – oder gewaltsamen Tod gilt das noch immer. Oder mehr denn je. Wenn sie wirklich Frieden und Versöhnung mit den Palästinensern anstreben und wollen, müssten die Israelis zugeben: Auch uns fehlt Arafat. Doch das wird man von ihnen vermutlich nie zu hören bekommen. Sie müssten einräumen, sich 2004 getäuscht zu haben.

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