Wer geht, kommt nicht wieder

Dissens Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag verliert unter den afrikanischen Staaten an Fürsprache und Mitgliedern
Ausgabe 45/2016

Zugegeben, der Haager Weltgerichtshof (ICC) verfügte in Afrika noch nie über eine begeisterte Lobby, doch gab es eine Gruppe von Staaten, die sich der Einsicht nicht verschließen wollten, dass Rechtspflege notfalls nationale Grenzen sprengen muss. Besonders dann, wenn es Kapitalverbrechen wie Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Aggressionen gegen Staaten wie Völker zu sühnen gilt. Immerhin wurde in 34 Ländern dieses Kontinents das Rom-Statut – die 1998 ausgehandelte Magna Charta des ICC – anerkannt, in der Regel ratifiziert und zu bindendem Recht erklärt, während 20 afrikanische Länder von Anfang an kategorisch auf Distanz gingen.

Die Skeptiker und Gegner erhalten nun Zulauf. Gambia und Burundi wollen ausscheren und berufen sich nicht zuletzt auf Südafrika, das der Haager Rechtsprechung inzwischen eine klare Absage erteilt. Die Regierungen Kenias, Namibias und des Kongo lassen durchblicken, in Kürze gleichfalls jede Kooperation mit Juristen dieses Tribunals zu beenden.

Warlords und Präsidenten

Wie die Abtrünnigen ihre Abkehr begründen, unterscheidet sich kaum: Man wolle nicht länger hinnehmen, dass Ermittlungen und Prozesse des Weltgerichtshofs nahezu ausschließlich gegen Afrikaner geführt werden, aber Kriegsverbrechen oder andere Vergehen westlicher Politiker und Militärs vollends ausgeblendet blieben. In Den Haag verfolge ein Gericht der Weißen einseitig Menschen mit dunkler Hautfarbe, so die Argumentation. Es handle sich um die postkoloniale Hybris einer juristischen Elite, die ihrer zivilisatorischen Überlegenheit in Urteilen Ausdruck verleihe. So etwa sagt es der gambische Präsident Yahya Jammeh, so äußert sich auch die Entourage des südafrikanischen Präsidenten und ANC-Führers Jacob Zuma, der den ICC-Dissidenten allein wegen der gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe nicht gerade zur Zierde gereicht.

Was ist an solcher Generalkritik berechtigt, wenn mit Fatou Bensouda seit 2012 eine ehemalige Justizministerin aus Gambia als Chefanklägerin des ICC fungiert? Fraglos fällt es schwer, nach knapp anderthalb Jahrzehnten ICC den Eindruck zu entkräften, dass sich in Den Haag eine Rechtsprechung etabliert hat, deren Unabhängigkeit und Überparteilichkeit leider nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Tatsächlich haben sich Ermittler und Ankläger dieses Gerichts seit 2003 bevorzugt mit schweren Rechtsbrüchen im Sudan, in der Demokratischen Republik Kongo, in der Zentralafrikanischen Republik (2005, nochmals 2014), in Uganda, Kenia, Libyen, der Elfenbeinküste und Mali beschäftigt. In nichtafrikanischen Staaten wurde – wegen möglicher Kriegsverbrechen und anderer Delikte – lediglich in Georgien und in der Ukraine ermittelt, mehr jedoch nicht.

Per internationalem Haftbefehl, erlassen auf Ersuchen des einstigen ICC-Chefanklägers Luis Moreno Ocampo aus Argentinien, wird der sudanische Staatschef Omar al-Baschir gesucht. Anklage erhoben (allerdings Ende 2014 wieder fallen gelassen) wurde gegen den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta wegen seiner Rolle bei den Unruhen nach einer umstrittenen Präsidentenwahl Ende 2007. Vor einer Kammer des ICC läuft seit 2013 der Prozess gegen Laurent Gbagbo, einst Regierungschef der Elfenbeinküste, der sich als Urheber eines Bürgerkrieges und wegen der Verbreitung von Rassenhass verantworten muss. Der britische Ex-Premier Tony Blair hingegen, dem Anfang Juli 2016 im Untersuchungsbericht der Chilcot-Kommission angekreidet wurde, auf der Basis aufgebauschter, teils gefälschter Geheimdienstinformationen im März 2003 einen Angriffskrieg gegen den Irak ausgelöst zu haben, muss nicht damit rechnen, durch den ICC behelligt, geschweige denn angeklagt zu werden. Und das, obwohl Großbritannien im Unterschied zu den USA dem Rom-Statut beigetreten ist.

Schuld und Sühne

Um richtig verstanden zu werden, afrikanische Warlords wie den kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga zu verfolgen und mit 14 Jahren Gefängnis zu bestrafen, ist nicht zu beanstanden. Gleiches gilt für das im September gefällte Urteil gegen den malischen Dschihadisten Ahmad al-Faqi al-Mahdi, der wegen seiner Angriffe auf das kulturelle Erbe Timbuktus für neun Jahre ins Gefängnis muss. Auch wenn der UN-Sicherheitsrat 2008 das Haager Tribunal einschaltet, um zu prüfen, ob die sudanesische Führung Vertreibungen in ihrer Provinz Darfur zu verantworten hat, wird mit legitimen juristischen Mitteln versucht, Menschenleben zu schützen.

Nur hat die Regierung in Khartum das Rom-Statut so wenig anerkannt wie die der USA. Was bedeutet, beide Staaten verweigern jedwede Kooperation. Doch wird Ex-Präsident George W. Bush anders behandelt als Omar al-Baschir. Der einstige Oberkommandierende der US-Armee wird nicht dafür belangt, 2003 gegen den Irak eine Aggression veranlasst zu haben, die zu schweren Kriegsverbrechen führte. Bush hat zudem ein Besatzungsregime zu verantworten, dessen Vollstrecker Verbrechern gegen die Menschlichkeit begingen. Man denke an die Torturen, denen Hunderte von Gefangenen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib ausgesetzt waren. Wie sollte der Strafgerichtshof da nicht in Verruf geraten, auf eine Zweiklassenjustiz bedacht zu sein?

Diese bedenkliche Praxis ließe sich nun korrigieren, sollte wirklich Personal der US-Armee und der CIA angeklagt werden, in den Jahren 2003 und 2003 mehr als 60 Gefangenen in Afghanistan gefoltert zu haben. Möglicherweise seien Kriegsverbrechen begangen worden, heißt es in einem Bericht von ICC-Chefanklägerin Fatou Bensouda. Auch wenn die USA kein ICC-Staat sind, ist das Weltgericht doch zuständig, weil es zu den möglichen Vergehen auf dem Territorium des ICC-Staates Afghanistan kam.

Wird künftig ein mutmaßlich weiter abnehmender Teil der afrikanischen Staaten dem ICC zuarbeiten, dürfte dessen Handlungsvermögen Schaden nehmen. Das Gericht hat keine eigenen Vollzugs- und Vollstreckungsorgane, es ist auf die seiner Mitgliedsstaaten angewiesen – und deren politischen Willen. Eine ohnehin selektive Rechtsprechung droht noch selektiver zu werden, allein weil die materiellen Voraussetzungen schrumpfen.

Dass sich Südafrika vom Weltgerichtshof lossagt, dürfte seine Wirkung in Afrika nicht verfehlen, zählte doch der Post-Apartheid-Staat während der Präsidentschaft Nelson Mandelas zu den erklärten Fürsprechern einer Gerichtsbarkeit, die ungeachtet nationaler Belange der Universalität des Rechts, besonders des Völkerstrafrechts, Geltung verschafft.

Mehr noch, durch die in den 90er Jahren entstandenen Wahrheitskommissionen, sollten Willkür und Schande der Rassentrennung eher aufgearbeitet als geahndet werden. Um der inneren Versöhnung zu dienen, wagte die südafrikanische Zivilgesellschaft den Versuch, Täter und Mitläufer des Apartheid-Regimes nach dem Prinzip „Sühnen ist besser als strafen“ zur Rechenschaft zu ziehen. Das Exemplarische dieser Praxis wird heute kaum mehr erinnert. Dabei erscheint es für viele afrikanische Gesellschaften, die mehr denn je von ethnischen und konfessionellen Konflikten zerrissen werden, so dass ganze Staaten scheitern, doch ratsam, eine Rechtskultur zu finden, die friedensstiftend wirkt. Wenn freilich Sieger über Besiegte Gericht halten, lassen sich Hass und Feindschaft schwerlich eindämmen.

Leider gehorcht der ICC mit seinen Strafrechtsnormen, mit den Vorschriften für Gerichtsverfahren, für die Auslieferung von Angeklagten, Formen der Rechtshilfe und den Strafvollzug einem kodifizierten Rechtsverständnis, das außergerichtlichen Praktiken zu wenig Beachtung schenkt. Weshalb eigentlich, wäre zu fragen, wenn man sich doch sonst so viel mit Tätern und Tatbeständen afrikanischer Provenienz beschäftigt?

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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