Wenn die Einheit und der Kampf der Gegensätze den Umschlag in eine neue Qualität versprechen – irgendwann, aber dann unbedingt –, müsste die EU auf der Schwelle zum schnittigen Global Player stehen. Sie wäre innerlich gestählt und nach außen von einem einzigen Willen beseelt, dieser Welt die eigene Weltmacht zu beweisen. Bisher allerdings stiften die Gegensätze mehr Kampf als Einheit. Und die Kämpfer wirken wie Gladiatoren, die nur weichen, wenn sie fallen. So gönnt EU-Justizkommissar Didier Reynders aus Belgien dem Mitglied Polen keine Gnade, seit dessen Verfassungsgericht vor Tagen entschieden hat, dass Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) unzulässig seien, falls sie dem polnischen Justizwesen gelten. Es geht um die Disziplinarkammer für Richter, die nach dem Willen der Luxemburger Rechtshüter ihre Arbeit endlich einzustellen hat. Begründung: Dieses Gremium agiere nicht unabhängig von der nationalkonservativen PiS-Regierung.
Das mag zutreffen, nur ist eine Konfrontation zwischen Warschau und Brüssel mehr als heikel. Keiner kann unbeschadet daraus hervorgehen, ist sie erst heraufbeschworen. Wie lässt sich Polen zum Einlenken bewegen? Indem damit gedroht wird, die ihm zugedachten 36 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds ganz oder teilweise einzufrieren? Für PiS-Chef Kaczyński und Präsident Duda wäre das der ultimative Beweis für die imperialen Gebaren der EU. Würde Polen derart gemaßregelt – es käme ihnen gelegen. Andererseits, ein Ausscheren aus der europäischen Rechtsgemeinschaft schulterzuckend zur Kenntnis nehmen? Was ist sie dann noch wert? Wieder einmal zeigt sich, wie leicht die EU in schweres Wasser gerät, sobald Mitgliedsstaaten den Souveränitätsanker werfen.
Was daraus folgt, ist eher Spaltung als Vielfalt. Der Staatenbund zerfällt bereits in Asylgewährer und Asylverweigerer, Ankunfts- und Zielländer von Migration, Nettozahler und Nettoempfänger, Russland-Falken und -Tauben, Schuldner und Gläubiger, Multilateralisten und Nationalisten. Nun also zusätzlich in Bewahrer und Beschneider von Rechtsstaatlichkeit, wie man sie in den EU-Gesetzen definiert hat. Dabei verkörpert Polen für Osteuropa weder die Ausnahme noch die Regel. Was bleibt bei so viel Fragmentierung von einer Staatenassoziation anderes übrig als ein Fragment?
Rächt sich einmal mehr, die EU-Osterweiterung mit dem Treueschwur für einen Wertekanon verwechselt zu haben? Was in den späten 1990er Jahren und danach die Bewegung von Ost nach West unter seine Fittiche nahm, war das Gesetz des Augenblicks. Doch der ist längst verflogen. Den heutigen antiliberalen Alternativen in Polen, Slowenien, Ungarn, der Slowakei, teilweise in Bulgarien, Rumänien und Tschechien, ist suspekt, was seinerzeit die sogenannten Transformationseliten antrieb. Deren Devise „Zurück nach Europa“ – als ob man bis dahin nicht dazugehörte – galt als kategorischer Imperativ, den kaum jemand anzuzweifeln wagte. Mittlerweile hat sich die „Rückkehr“ als Weg nach Westeuropa erwiesen, als Marsch in die kulturelle Bekehrung – und in einen Kampf der Gegensätze. Dass diese als Einheit wahrgenommen werden, verdankt sich allein dem EU-Kontext, aus dem sie hervorgehen und in dem sie ausgetragen werden. Alles andere als ein familiärer Rahmen. Auf jeden Fall keine Werteunion, eher ein Wertedschungel, aus dem sich jeder holt, was er braucht.
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