Wie 1962 in Kuba

Rote Linie Die Ukraine ist informell NATO-Staat – kein Wunder, dass Moskau reagiert
Ausgabe 49/2021
Militärmanöver Rapid Trident im September 2021 bei Lviv: Wird die Ukraine zum „unsinkbaren Flugzeugträger“ der USA?
Militärmanöver Rapid Trident im September 2021 bei Lviv: Wird die Ukraine zum „unsinkbaren Flugzeugträger“ der USA?

Foto: Serhii Hudak/Getty Images

Inwieweit bleibt man unter einem Stahlhelm politisch zurechnungsfähig? Ende Mai bekam der grüne Co-Vorsitzende Robert Habeck einen aufgesetzt, als er in einem Unterstand der ukrainischen Armee am Donbass auftauchte, seinen Gastgebern nach dem Mund redete und erklärte, mehr Defensivwaffen müssten in die Ukraine geliefert werden. Unterlag er einer gestörten Wahrnehmung? Ging es nicht um Offensivwaffen? Nur damit war schließlich auf die abtrünnigen Enklaven Donezk und Lugansk gut schießen und mehr Druck auf diese Refugien des Ungehorsams möglich. Was bisher zu mehr als 3.300 zivilen Opfern geführt hat.

Entschlossen wie nie

Habecks Erkunden und Bekunden waren ein Beleg dafür, wie sehr der irreführende Umgang mit Kausalitäten zum westlichen Standardrepertoire im Ukraine-Konflikt gehört. Die Reflexionen nach dem Videogipfel zwischen Joe Biden und Wladimir Putin in dieser Woche vertiefen diesen Eindruck. Dass ein solches Treffen zustande kam, ist weniger ein Zugeständnis der USA an Russland, wie allenthalben nach dem Muster suggeriert wird: Werden russische Truppen massiert, regt sich in Washington die Diplomatie. Aus Verantwortung für den Frieden, versteht sich.

Tatsächlich ist das Zugeständnis ein Eingeständnis. Die USA sind dafür zuständig, die Ukraine als unsinkbaren Flugzeugträger zu präparieren und an der Grenze mit Russland zu verankern. Da Biden damit ein konfrontatives Verhältnis zu Moskau untermauert, muss er politisch reagieren, wenn Putin darauf militärisch antwortet (eine Bedrohung vor der eigenen Haustür nimmt keine Großmacht einfach so hin). Zumal ein Angriff der ukrainischen Streitkräfte auf den Donbass – mit dem Rückhalt der USA wie der NATO – durchaus denkbar ist. Das russische Oberkommando jedenfalls scheint davon auszugehen. Es bündelt Abschreckungsmacht und nimmt eine Anleihe bei der NATO-Doktrin des Kalten Krieges. Immerhin sind Kerninteressen der eigenen Staatlichkeit berührt. Der Vergleich hinkt absolut nicht: Was unternähmen die USA, wollte eine russisch-kubanische Militärallianz Mexiko als Vorposten gewinnen und unablässig beteuern, man handle selbstredend nicht in provokativer Absicht, um Washington die Instrumente zu zeigen? Man solidarisiere sich lediglich mit einem befreundeten Regime. Niemand müsse sich bedroht fühlen. Was haben die USA getan, als 1962 sowjetische Raketen auf Kuba disloziert waren? Selbst ein Weltkrieg schien kein zu hoher Preis, um deren Abzug zu erzwingen.

In der Ukraine soll es dagegen vollkommen harmlos sein, wenn vorhandene zu vollendeten Tatsachen werden und die Westanbindung militärisch Fahrt aufnimmt? Offenkundig hat sich die NATO damit arrangiert, dass eine offizielle Mitgliedschaft der Ukraine vorerst unangebracht, weil zu riskant ist. Ein Staat, der einen ungelösten Territorialkonflikt wie den in der Ostukraine als Mitgift ins Bündnis bringt, kann sich im Ernstfall auf das Beistandsgebot nach Artikel 5 des NATO-Vertrages berufen. Um glaubwürdig zu bleiben, müsste die Allianz dann handeln und bekäme es weniger mit den staatsähnlichen Entitäten Donezk und Lugansk als deren Schutzmacht Russland zu tun. Ein offener Schlagabtausch wäre unausweichlich, Ausgang offen, Verluste enorm. Die Kollateralschäden dürften katastrophal und für lange Zeit irreparabel sein. Die NATO könnte ein solches Inferno vermeiden, würde sie die Regierung von Wolodymyr Selenskyj veranlassen, die Autonomie des Donbass anzuerkennen und dies verfassungsrechtlich zu bestätigen, wie es der Minsker Vertrag von 2015 vorsieht.

Warum jedoch sollte die NATO so verfahren? Bisher bietet ihr der Donbass-Konflikt enorme Vorteile, solange er nicht außer Kontrolle gerät. Bleibt die Region umkämpft, lässt sich Russland als Aggressor geißeln und rechtfertigen, was daraus folgt. Die Aufrüstung der ukrainischen Armee mit Flugabwehrsystemen, Panzern und Panzerabwehrlenkwaffen, Helikoptern und Drohnen, komplettiert durch NATO-Manöver im Schwarzen Meer, US-Truppen auf ukrainischem Boden, Militärausbilder aus Großbritannien, ab 2022 ebenso aus der EU. Hinzu kommt die Präsenz ukrainischer Minister bei NATO-Meetings wie vor Tagen dem Treffen der Außenminister in Riga.

Unverkennbar wird ein Land vom potenziellen zum informellen NATO-Staat, zur militärisch gut gesicherten Bastion, um zu vervollständigen, was der Nordatlantikpakt seit 1999, dem Beginn der Osterweiterung, vom Baltikum bis Bulgarien an strategischer Vorsorge betreibt. Galt unter diesen Umständen für Moskau bisher ein direkter NATO-Eintritt der Ukraine als „rote Linie“, wird die nun gegen eine verdeckte Integration gezogen, wie sie von den USA vorangetrieben und von der NATO flankiert wird. Russland wirkt mehr als entschlossen, diese „militärische Expansion“ (Putin) definitiv aufzuhalten. Außenminister Sergej Lawrow verlangt, es müsse langfristige Garantien für die nationale Sicherheit geben. Man könne „nicht ständig darüber nachdenken“, was morgen in der Ukraine passiere. Nur wer soll diese Garantien geben? Der Westen müsste eine seit Jahrzehnten verfolgte Ukraine-Politik infrage stellen. Weil das nicht geschieht, bleibt nur die kontrollierte Konfrontation mit einer nach oben offenen Eskalationsskala. Dabei hat Russland das Reservoir an Reaktionen durch das Zusammenziehen von Truppen keineswegs ausgeschöpft.

Falls Kiew angreift

Die sich wiederholende Warnung vor katastrophalen Folgen für die „ukrainische Staatlichkeit“, sollte Kiew zum Angriff auf den Donbass antreten, deutet nicht nur auf den dann unausweichlichen bewaffneten Konflikt. Zugleich wäre für Donezk und Lugansk jede Verhandlungslösung obsolet und deren Trennung von der Ukraine endgültig. Auch müsste Russland nicht einmal aus der Normandie-Gruppe aussteigen. Sie hätte sich als Verhandlungsformat erledigt, da im Ernstfall die Parteinahme der neuen Regierung in Berlin und wohl auch der in Paris eindeutig ausfiele.

Europa würde zerrissen, wie das nicht einmal zu Zeiten des Ost-West-Konflikts der Fall war, als der Kalte Krieg auch deshalb geführt wurde, um einen heißen zu vermeiden. Joe Biden wäre gut beraten gewesen, hätte er Wladimir Putin einen Vertrag in Aussicht gestellt, der jede weitere NATO-Ostausdehnung ausschließt.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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