Nach seiner Wahl am 25. Mai war Präsident Petro Poroschenko um klare Ansagen bemüht. Er wolle den Kampf „gegen die Terroristen im Osten“ beschleunigen. Die Operation werde „nicht Monate dauern, sondern Stunden“. „Kein größeres Übel, als den Feind zu unterschätzen – das bringt mich leicht um meine Schätze“. Die Warnung des chinesischen Philosophen Laotse (er lebte im 6. Jahrhundert v.u.Z) wird nie erledigt sein, solange sich Menschen Handlungszwängen aussetzen, die sie überfordern.
Auch Poroschenko hat das erfahren. Als der Feldzug im Osten schon längst nicht mehr in Stunden, sondern in Monaten und Tausenden von Toten zu messen war, sollte plötzlich Schluss sein. Seit dem 5. September, um 18.00 Uhr Ortszeit, schweigen die Waffen in den Donbass-Regionen um Lugansk und Donezk. Dass dieser Zustand seit mehr als zehn Tagen im wesentlichen Bestand hat, ist zweifelsfrei eine Zäsur. Der Regierung in Kiew hat mit den Aufständischen einen Ausweg gesucht und sie als Vertragspartner anerkannt, was schwer zu widerrufen sein wird.
Es wurde die Rückeroberung des Ostens abgebrochen und stattdessen signalisiert, eine staatliche Ordnung aushandeln zu wollen, die eine weitgehende Autonomie des Donbass respektiert. Was dieses Ansinnen auch immer an Ergebnissen zeitigt – es spiegelt eine Patt-Situation, was Kiew nicht weiter überraschen kann. Schließlich war man in der dortigen Administration stets davon überzeugt: Ohne Russland gibt es keinen Aufruhr im Osten. Was im Umkehrschluss heißt: Wer sich dort durchsetzen will, muss Russland schlagen. Und wer das nicht kann, mit Russland verhandeln – aus militärischen, aus ökonomischen Gründen erst recht.
Der ukrainische Staat stand vor dem Aufmarsch im Osten am Rand des Staatsbankrott, also schlecht da, ihm geht es nach fast vier Monaten Krieg wesentlich schlechter. Das dürfte manchen Gläubiger oder potentiellen Investor im Westen schwindeln lassen. Was soll man einem Schuldner geben, der als Bankrotteur nimmt, was ihn rettet?
„Gegen das, was es braucht, um die Ukraine am Leben zu halten, war die Griechenlandhilfe ein Klacks“, so Michael Fuchs, stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, am Wochenende, als er in einem Interview von externen staatlichen Rettungspaketen für die Ukraine nichts wissen wollte. Wird der Fall Griechenland erwähnt, lohnt es, die Dimensionen zu erinnern, in denen sich die beiden seit 2010 für Athen von den Eurostaaten aufgelegten Hilfspaketen bewegten. Das erste hatte ein Volumen von 110 Milliarden Euro an Krediten und Bürgschaften, das zweite von 130 Milliarden Euro, auch wenn dieses Kapital nicht zu hundert Prozent abgerufen wurde, es konditionierte Zahlungstranchen und -fristen gab.
Merkels Kompensationen
Bis Ende 2015 benötigt die Ukraine ein Kreditvolumen von etwa 20 Milliarden Euro – nur um Schulden zu tilgen und laufenden Haushaltspflichten nachzukommen. Dabei nicht eingerechnet sind die Kreditbürgschaft von einer Milliarde Dollar, die von der US-Regierung übernommen wurde, jene Hilfszusagen der EU von 1,6 Milliarden Euro, für die größtenteils Deutschland aufkommen muss, und die 500 Millionen Euro Wiederaufbauhilfe für den Donbass, die Kanzlerin Merkel am 23. August bei ihrem Kiew-Besuch zugesagt, aber an eine Waffenruhe gebunden hat. Viele spricht inzwischen übrigens dafür, dass ihr Trip in die ukrainische Hauptstadt eine Art politische Kompensation für Poroschenko war, damit der sich zur Verständigung mit Moskau und den Aufständischen durchringen konnte.
Rächen sich jetzt die vielen leichtfertigen Ermutigungen und Versprechen, die es während des Maidan-Aufstandes zwischen November 2013 und Februar 2014 aus der EU gab? Und die man nun weder einhalten kann noch will? Nur ein Beispiel: Da Kiew ausstehende Rechnungen für geliefertes Gas aus Russland nicht begleicht, sind diese Exporte bis auf weiteres storniert. Ab Januar 2015 könnte so die Energieversorgung für private Haushalte und industrielle Nutzer zusammenbrechen. Wie soll man das abwenden?
Poroschenkos Maginot-Linie
Die Euro-Finanzminister haben soeben bei ihrem Treffen in Mailand eine akute Konjunkturschwäche in der Währungsunion einräumen müssen. Sie sehen sich so wenig in der Lage, einen Marshall-Plan für Griechenland und andere angeschlagene Staaten aufzulegen, wie endlich wirksam gegen die grassierende Jugendarbeitslosigkeit von teils mehr als 60 Prozent in den Südländern der EU vorzugehen. Und dann ein Land subventionieren, dessen Regierung trotz leerer Kassen auf 1.500 Kilometern eine Maginot-Linie an der Grenze zu Russland mit Tausenden von Unterständen und „nicht sprengbaren Sperren“ bauen will?
Da hat es schon etwas zu bedeuten, wenn das Handelsabkommen zwischen der EU und der Ukraine auf Wunsch Russlands bis Ende 2015 aufgeschoben wird. Unter anderem soll sich die deutsche Kanzlerin dafür eingesetzt haben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, die vor Tagen erneut verhängten EU-Sanktionen sollen durch solcherart Konzessionen politisch weichgespült werden. Damit signalisiert die EU, dass sie den Bruch mit Moskau nicht weiter zementieren will, und Kiew dies bitteschön schlucken soll.
Da muss – zumal innerhalb der Europäischen Union die Sanktionsskepsis wächst – die Frage erlaubt sein, ob die Strafaktion gegen Russland noch politischer Rationalität gehorchen oder vielmehr kosmetischer Natur sind, um das Gesicht zu wahren und Zeit für die Suche nach einem geordneten Ausstieg aus diesem Konflikt zu gewinnen. Finnland, Italien, die Slowakei und Ungarn haben zu verstehen gegeben, dass sie auf einen Handelskrieg mit Moskau sehr gut verzichten können.
Sollte der tatsächlich ausbrechen, wäre das ein hoher Preis für das als „Verlobung“ bezeichnete Tändeln der Ukraine mit der EU. Aber Verlöbnisse kann man lösen und dabei vielleicht die Einsicht fördern, dass die Ukraine wirtschaftlich keine Chance hat, wenn es durch Russland boykottiert wird. Alles sollte die Regierung Poroschenko etwas tun, damit zumindest der Anfang 2014 noch vorhandene Status der wirtschaftlichen Beziehungen reaktiviert und die einseitige Abhängigkeit von den Sponsoren im Westen relativiert wird.
Kissingers Plan
Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger hat vor Monaten angedeutet, es sei sinnvoll, sich an das österreichische Muster zu halten und eine Neutralität der Ukraine zu besiegeln. Der Alpenrepublik wurde nach dem Ende der alliierten Besatzung 1955 per Staatsvertrag ein solcher Status zuteil, keineswegs zum Nachteil ihrer inneren Stabilität und Sicherheit. Dass es für die Ukraine ein ähnliches Abkommen braucht, steht für Moskau außer Frage. Mündliche Zusagen oder Beschwichtigungen des Westens haben sich in den vergangenen 25 Jahren zu oft als fadenscheiniges Manöver oder Täuschung erwiesen. Wie gesagt: „Kein größeres Übel, als den Feind zu unterschätzen ...“
die Ukraine zwischen November 2013 und September 2014
Protestwelle
Nachdem Präsident Viktor Janukowytsch Mitte November 2013 ein Assoziierungsabkommen mit der EU wegen der prekären ökonomischen Lage seines Landes storniert, kommt es in Kiew und Städten der Westukraine zu öffentlichen Protesten. In der Hauptstadt wird der Unabhängigkeitsplatz (Maidan) für Monate besetzt. Mehrere Verhandlungsversuche zwischen Regierung und Opposition scheitern.
Scharfschützen
Am 20. Februar 2014 gerät die Lage in Kiew außer Kontrolle, als im Umfeld des Maidan Scharfschützen auf Demonstranten und Polizisten schießen. Es gibt Dutzende von Toten. Bis heute sind die Geschehnisse nicht aufgeklärt. Spuren und Aussagen Beteiligter sprechen dafür, dass aus dem Hotel Ukraine und dem Gewerkschaftshaus gefeuert wurde, die seinerzeit in der Hand des Anti-Janukowytsch-Lagers waren.
Präsidentensturz
Einen Tag später handeln Janukowytsch, die Opposition und die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens ein Abkommen aus, das eine gemeinsame Regierung, Wahlen und einen Übergang bis Ende 2014 vorsieht. Stunden später wird Janukowytsch unter dem Druck seiner Gegner gestürzt, ohne dass die externen Schirmherren des Vertrages den putschartigen Machtwechsel beanstanden.
Staatenwechsel
Auf der Krim kommt es nach dem Umsturz in Kiew zu einer starken, von Russland unterstützten sezessionistischen Bewegung. Am 6. März beschließt das Regionalparlament von Simferopol den Beitritt zur Russischen Föderation, den am 16. März ein Referendum bestätigt –93 Prozent sind dafür. Beide Abstimmungen sind umstritten. In Moskau wird die Annexion der Krim am 18. März per Dekret besiegelt.
Waffenruhe
Nach einem Treffen in Minsk kommt es zu mehreren Telefonaten zwischen den Präsidenten Russlands und der Ukraine. Wladimir Putin legt einen Sieben-Punkte-Plan für eine Waffenruhe vor, der zunächst von den Aufständischen, später in der OSZE-Kontaktgruppe auch von der Kiewer Regierung angenommen wird. Am 5. September wird das Feuer um 18.00 Uhr Ortszeit eingestellt – der Waffenstillstand ist brüchig.
Flugzeugabsturz
Über der Ostukraine stürzt am 17. Juli eine malaysische Maschine (MH 17) ab. Keiner der 298 Insassen überlebt. Bis heute ist die genaue Ursache ungeklärt. Eine von den Niederlanden geführte Kommission präsentiert am 9. September nur einen vorläufigen Abschlussbericht, der die Schuldfrage unbeantwortet lässt. Die EU nahm Ende Juli die Tragödie zum Anlass, um verschärfte Sanktionen gegen Russland zu verhängen.
Rückzug
Die Aufständischen ziehen sich am 6. Juli auf die Linie Donezk-Lugansk zurück, nachdem sie die Städte Mariupol und Slawjansk an die ukrainische Armee verloren haben. Präsident Poroschenko erklärt: „Das ist noch kein vollständiger Sieg. Die Zeit für ein Feuerwerk ist noch nicht gekommen“, womit die Rückeroberung von Donezk und Lugansk gemeint ist. Dort ist die Lage für die Zivilbevölkerung äußerst prekär.
Aufmarschbefehl
Am 25. Mai wird der Unternehmer und Ex-Minister Petro Poroschenko zum Präsidenten der Ukraine gewählt. Allerdings findet dieses Votum nicht in den Regionen im Osten statt, die unter der Kontrolle von Aufständischen stehen, die „Volksrepubliken“ ausrufen und teilweise einen Anschluss an Russland fordern. Poroschenko befiehlt der Armee eine „Anti-Terror-Operation“ gegen die abtrünnigen Gebiete.
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