Willkommen Tuvalu!

KOMMENTAR UN-Millennium-Gipfel in New York

Wer kann sich schon glücklich schätzen, ein Unternehmen zu führen, das weltweit keinen Konkurrenten zu fürchten braucht, das sich seiner Exklusivität sicher sein kann und dabei auf eine Klientel zählen darf, die nicht nur seit Jahrzehnten die Treue hält, sondern zuweilen sogar erfreuliche Vermehrung erfährt? So konnte denn Kofi Annan, der Geschäftsführer besagter Weltorganisation, beim Millennium-Gipfel in New York die pazifische Inselgruppe Tuvalu als 188. UN-Vollmitglied willkommen heißen. Sofern demnächst keine Staatsgründungen stattfinden, bleiben vorerst nur noch zwei potenzielle Klienten außen vor: Die Schweiz und der Vatikan. Welch erbaulicher Umstand für ein Unternehmen, sein Geschäftsfeld derart flächendeckend abgegrast zu haben. Ein willkommener Anlass, sollte man meinen, sich dankbar der Gründungsstatuten zu erinnern, die kein Fehltritt gewesen sein können, wenn Erfolg derartig für sie bürgt.

Allerdings hielten sich die 160 Staats- und Regierungschefs in New York mit Lob für die UN-Charta auffallend zurück. Das wirkte fast wie ein Eingeständnis dafür, wie weit man sich doch vor allem im vergangenen Jahrzehnt davon entfernt haben könnte - nicht nur weil das Gewaltmonopol der UNO durch die NATO zuerst in Sarajevo, später im Krieg gegen Jugoslawien, gebrochen wurde. Die Vereinten Nationen haben vor allem dann ihre Charta boykottiert, wenn sie gegenüber Staaten, Völkern oder Bevölkerungsgruppen auf Hilfe verzichteten, die sich in akuten Notsituationen befanden. Man erinnere sich: im April 1994 zogen die Blauhelme des UNAMIR-Kontingents aus Ruanda ab, als sich dort der ethnische Konflikt zwischen Tutsi und Hutu in Massakern, schließlich sogar einem Genozid entlud. Zweieinhalb Jahre später - im November 1996 - sollte ein UN-Kontingent Zehntausende von ruandischen Flüchtlinge aus dem kongolesischen Bürgerkrieg evakuieren und sagte den Einsatz ab, bevor er begonnen hatte. Vor genau einem Jahr - es war am 15. September 1999 - erteilte der Sicherheitsrat endlich das Mandat für den Einsatz eines UN-Friedenskorps auf Osttimor. 16 Tage nach dem Unabhängigkeitsreferendum - 16 Tage, in denen indonesische Todesschwadronen über die Bewohner der Hauptstadt Dili Tod und Verderben brachten. Dem ließe sich entgegenhalten, seit 1990 sei die Zahl der Peace-Keeping- oder Peace-Enforcement-Operationen in Dimensionen geraten, wie noch nie seit Gründung der UNO 1945. Nimmt man die Beobachter-Missionen hinzu, dann sind zur Zeit 37.000 Militärs oder Polizeikräfte aus mehr als 70 Staaten mit einem UN-Auftrag weltweit im Einsatz. Aber warum beklagt dann Kofi Annan fehlende Handlungsfähigkeit und unzureichende Konflikt-Prävention? Könnte es sein, dass die Weltorganisation im 55. Jahr ihres Bestehens mit der höchsten Mitgliederzahl, die es je gab, weiter von ihrer Gründungsidee entfernt ist als je zuvor?

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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