Wir sind selbst schuld

Türkei Jetzt rächt sich, dass die EU das beitrittswillige Land wie einen Bittsteller behandelt hat. Regierungschef Erdoğan lässt nun alle Rücksicht fahren

Es ist vorbei. In Brüssel und Berlin darf aufgeatmet werden. Die Türkei hat sich als EU-Aspirant soweit disqualifiziert, dass eine EU-Mitgliedschaft zunächst erledigt scheint. Einem Regierungschef, der seinen Hang zu autoritärem Gebaren so zügellos auslebt, schickt man zwar Patriot-Raketen und Bedienungscrews der Bundeswehr, aber kein Entreé-Billett fürs vereinte Europa. Der missliebige ist nun ein durchgefallener Anwärter. Angela Merkel hat Tayyip Erdoğan bereits die kalte Schulter gezeigt: Was in der Türkei passiere, entspreche „nicht unseren Vorstellungen von Demokratie und Freiheit“. Die EU kann darauf vertrauen, dass ihr im Augenblick niemand vorwirft, eine historische Chance – den Brückenschlag in die arabisch-islamische Welt – zu verspielen.

Aber genau darum geht es. Ein halbes Jahrhundert lang hat Ankara um die Gunst Brüssels geworben, immerhin enthielt schon der 1963 mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft geschlossene Assoziierungsvertrag eine Beitrittsklausel. Doch bisher wollte keine Regierung so gezielt den europäischen Anker werfen wie die des Tayyip Erdoğan und seiner AKP.

Mit diesem Befund wird weder das nationalistische Motiv dieses Begehrens übersehen noch die naive Annahme vertreten, eine europäische Perspektive sorge automatisch für eine demokratisierte Türkei. Nur wer wollte ernsthaft bestreiten, dass sich die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft noch bis vor wenigen Jahren als kräftiger Motor für innere Reformen erwiesen hat – vom Verzicht auf die Todesstrafe bis zur zivilen Kontrolle der Armee? Ausgerechnet eine Partei des politischen Islam mühte sich, die Kluft zwischen der kemalistischen Moderne und einer traditionell konservativen Gesellschaft zu überbrücken. Europa wirkte beeindruckt oder tat zumindest so. Erinnert sei an die Empathie, mit der 2004 der EU-Fortschrittsbericht zur Türkei wie eine himmlische Botschaft gefeiert wurde. Es galt nur noch als Formsache, dass der Europäische Rat die Aufnahme offizieller Beitrittsverhandlungen absegnete. Kanzler Gerhard Schröder zollte Ankara höchstes Lob. Präsident Chirac sekundierte, der Weg nach Europa sei unumkehrbar. Ein Defätist, wer andeutete, man habe eben erst eine Osterweiterung überstanden und sollte etwas warten. Ein schlechter Europäer, wer nicht als guter Freund dem türkischen Bewerber die Wange tätschelte. Alles Theater und Tünche? Kam das jähe Erwachen, als mit der Nacht ein schöner Traum verflog?

Nehmen wir einfach die Vision als Realität und tun so als ob. Wäre die Türkei bereits aufgenommen, lebte die EU jetzt Wand an Wand mit der Arabellion, mit dem syrischen Bürgerkrieg, mit dem Irak und einem von Terror zerrütteten Staat, mit dem Iran und seiner Feindschaft zu Israel. Dies führt zu einer Gewissens- oder besser rhetorischen Frage: Besäße eine durch die Eurokrise zermürbte EU das geopolitische Format, diese Südflanke zu verkraften?

Wohl gemerkt, wir reden von einem Staatenbund, der sich zwar gern mit dem Friedensnobelpreis dekorieren lässt, aber kein gemeinsames Waffenembargo gegenüber allen syrischen Parteien zustande bringt. Dessen innere Solidarität mit so viel Hingabe gepflegt wird, dass Frankreich und Großbritannien in Syrien lieber islamistischen Freischärlern beistehen, als sich dafür zu interessieren, was solcherart Parteinahme für die UN-Soldaten des EU-Partners Österreich auf dem Golan bedeutet. Mit anderen Worten: Wer ohne die Türkei eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schuldig bleibt, müsste mit der Türkei erst recht passen. So ist es kein Wunder, wenn von den 35 Kapiteln, die den „rechtlichen Besitzstand“ der EU enthalten, in den Beitrittsgesprächen bis zum Mai 2013 ein einziges – das zu Wissenschaft und Forschung – als abgeschlossen galt, erst zwölf eröffnet wurden und der Rest ausgespart blieb.

Wird die Türkei jetzt in die Nähe eines Polizeistaates gerückt, in dem Oppositionelle behandelt werden wie einst im Chile Augusto Pinochets, sollte nicht vergessen werden, dass es sich rächt, einen Beitrittskandidaten jahrelang wie einen lästigen Bittsteller zu demütigen. Tayyip Erdoğan verabschiedete sich enttäuscht von seinen europäischen Ambitionen, als ihm klar wurde, dass die EU seinem Land nicht mehr als die ewige Warteschleife gönnen wollte. Schon beim letzten AKP-Kongress im Oktober 2012 waren so statt honoriger EU-Größen illustre Paten aus der arabischen Welt geladen: Ägyptens Präsident Mohammed Mursi, Hamas-Chef Chalid Maschaal oder der irakische Sunnitenführer Tarik al-Haschemi. Wer lange herumgestoßen wird, benimmt sich eben irgendwann wie ein Verstoßener und sucht nach neuen Verbündeten.

Leider wird Erdoğan damit weder der regionalen Verantwortung seines Staates gerecht noch der türkischen Gesellschaft, geschweige denn den ökonomischen Interessen. Die Türkei war zu lange unterwegs nach Europa, um umkehren zu können, ohne Schaden zu nehmen. Und wäre denn eine um das Land am Bosporus vergrößerte EU zwangsläufig eine kleine Türkei? Haben nicht Ressentiments und Vorbehalte – besonders in Deutschland – auch etwas mit dem Glauben an die eigene abendländische Exklusivität, mit der Angst um Besitzstände und der Abschottung gegenüber fremden Kulturen zu tun? Auch der europäischen Staatenunion heute fehlt die politische Reife, um einem Partner wie der Türkei gewachsen zu sein.

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 25/13 vom 20.06.2013

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