Wo ist der Osten?

Ampel Die Koalition verspricht eine Politik für alle. Doch wie glaubwürdig ist das, wenn ein Kabinett fast ohne ostdeutsche Minister gebildet wird?
Ausgabe 48/2021
Eine erneut fast rein westdeutsche Regierung feiert sich im Berliner Westhafen
Eine erneut fast rein westdeutsche Regierung feiert sich im Berliner Westhafen

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Da kommen sie! In breiter Front. Eine geschlossene Formation auf dem Sprung. Am Ufer eines stillgelegten Flusshafens im Berliner Westen marschieren sie. FDP-Lindner, Annalena Baerbock und Robert Habeck umgeben als Dekor der Mitte den designierten Kanzler Olaf Scholz. Mehr der Vollständigkeit halber, die beiden SPD-Vorsitzenden, ganz links und ganz rechts. Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’. Nicht im Wedding, diesmal im Westhafen. Die Botschaft: Wo wir unsere Bahn ziehen, sind der Landschaft Schneisen gewiss. Dass wir euch mal nicht überrollen, wenn es vorwärts geht. Das war die Ampelkoalition vor einer Woche, ins Freie drängend, entschlossen auftrumpfend. Die Allianz der Künftigen, professionell choreografiert und beifallheischend inszeniert. Performance muss sein, Pandemie kann sein, aber alles zu seiner Zeit.

Man stelle sich vor, dieses Aufgebot von der Hafenstraße wäre statt zur Breite des Aufmarschs zur Größe des Augenblicks fähig gewesen, und der Auftritt hätte lediglich in einer Erklärung des anstehenden Regierungschefs bestanden: Wir wollen der Pandemie einen Sinn geben, indem wir uns als Politiker hinterfragen, wir stellen ein ehrgeiziges Programm wie den Koalitionsvertrag nicht zurück, aber vorerst müssen wir uns um das tägliche Sterben an Corona kümmern. Man wäre geneigt gewesen, der Floskel „Mehr Fortschritt wagen“ einen Bonus einzuräumen. Was allerdings überhaupt nicht gebraucht wird, sind neue Krisenstäbe, derer gibt es genug. Was fehlt, sind wirksame Maßnahmen. Dass auf dieses Naheliegende, ja, Selbstverständliche verzichtet wurde, hinterließ den Eindruck: Wer sich derart in Szene setzt, und das jetzt, hat keinen festen Grund unter den Sohlen, sondern einen Abgrund an Selbstanbetung. Politik, zumal die bald maßgebende, braucht Empathie statt Euphorie, schon gar keinen Triumph vor der Tat, vielmehr Fachkompetenz und Einfühlungsvermögen. Sie sollte die pandemiebedingte Verunsicherung und Angst derer teilen, die sie zu regieren wünscht. Und die ihr folgen sollen. So dicht geschlossen die erste Reihe auch schien, so leer war die Straße der toten Kräne dahinter.

Offenbar reichte die Sensibilität ebenso wenig aus, sich darüber klarzuwerden: Eine erneut fast rein westdeutsche Regierung feiert sich im Berliner Westhafen, wo doch der ebenfalls stillgelegte Berliner Osthafen mehr Platz bietet für Aufmärsche aller und solcher Art. Symbolik wird zur Symptomatik, was im Osten die Entfremdung von Politik nochmals befeuern wird. Wie weit die fortgeschritten ist, zeigt sich – auch – mit den Impfverweigerern in Sachsen und Thüringen. Abschottung von Abgeschriebenen, die meinen, sich gegen die Politik mehr immunisieren zu müssen als gegen das Virus. Und deren Alternative nicht ausnahmslos die AfD ist. Diese Regierungsbildung, die Auswahl von Ministerinnen und Ministern, die Missachtung des Kriteriums der persönlichen Integrität bei der Personalie Baerbock – alles scheint verkünden zu wollen, dass bei der reklamierten „Modernität“ des Kabinetts Scholz nur auf den Westen Verlass ist. Im Osten dagegen nistet statt aufgeklärter Bürgerlichkeit behäbige Restauration. Es genügt daher, den Westen wie einen Pflock in den Osten hineinzutreiben.

Und das soll nicht restaurativ sein? Nach drei Jahrzehnten des Misslingens müsste ein solches Mantra als Regierungsdoktrin längst ausgedient haben. Hat es aber nicht. Unter den „Neun auf der Hafenstraße“ fand sich kein Ostdeutscher. Und zur Zehnergruppe wie früher bei den Aufmärschen der FDJ hat es nicht gereicht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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