Fast könnte der Eindruck entstehen, Alexis Tsipras sei von seinem Urteil abgerückt, dass er nach dem EU-Nachtgipfel vom 12. zum 13. Juli als Zeichen der Ehrenrettung formuliert hat: Es seien erneut Auflagen erteilt worden, die Griechenland mehr denn je der Depression ausliefern, hieß es vor vier Wochen. Der Premierminister weiter – er sei nicht von dem überzeugt, was ihm diktiert wurde, aber umständehalber erfüllt werden müsse, solle das Land weder Grexit noch ökonomischem Zusammenbruch ausgeliefert sein.
Die zu diesem Zeitpunkt gedrosselte Zufuhr an EZB-Krediten innerhalb der Emergency Liquidity Assistance und ein dadurch fast zum Erliegen gebrachter Bankenverkehr lieferten einen Vorgeschmack, womit unter Umständen zu rechnen war. Die Instrumente wurden nicht nur gezeigt – sie wurden bereits gebraucht.
Insofern sollte das Tempo, mit dem jetzt in Athen ein Kompromiss mit den Gläubigern ausgehandelt wurde, zu richtigen Schlüssen führen. Was zur Konditionalität des neuen Hilfspakets gehört, wird den seit fünf Jahren vorangetriebenen Kahlschlag in Griechenlands Soziallandschaft fortsetzen. Die oktroyierte Rentenpolitik dürfte für viele Familien, in denen der Pensionär längst die einzige Einkommensquelle ist, ein sicherer Kompass in Richtung Not und Entbehrung sein.
Die angestrebten Privatisierungen – u.a. bei Staatsunternehmen der Bahn, der Strom- und Wasserversorgung – werden Effizienzkriterien der Erwerber gehorchen und so zu Arbeitsplatzverlusten führen. Der Ausverkauf von Staatseigentum kann den Staat entlasten, enteignet ihn aber zugleich, so dass er als Wirtschaftsfaktor an Relevanz verliert.
Aussichtslose Kämpfe
Deratiges kann Syriza nur um den Preis der Selbstverleugnung gutheißen, was nicht geschieht. Freilich musste sich die Regierung Tsipras zu einem realpolitischen Schwenk durchringen, der ihr den Euro erhält. Sie hat offenbar die Notwendigkeit erkannt, mit den Gläubigern ohne Zeitverzug vollendete Tatsachen zu schaffen, um deutschen Grexi-Plänen vorübergehend den Boden zu entziehen.
Vermutlich ist in Athen, besonders beim Regierungschef, die Überzeugung gereift, dass es jetzt darauf ankommt, Zeit zu gewinnen, sich nicht länger in zermürbende Kämpfen mit den Gläubigern zu stürzen und dies in der Gewissheit zu tun, doch nur verlieren zu können Bei einer dreijährigen Laufzeit des dritten „Memorandum of understanding“ lassen sich Umbau und Modernisierung des Landes vorantreiben, ohne dass die latente Zahlungsnot eines Großschuldners die mentale Energie einer Regierung bindet.
Wie es den Anschein hat, genießt Tsipras dafür nach wie vor das Vertrauen einer Mehrheit seiner Landsleute. Allein die Reform der Finanz- und Steuerbehörden ist seit der Regierungsübernahme Ende Januar erkennbar fortgeschritten. Der Staat könnte Steuerflucht und -hinterziehung demnächst soweit eindämmen, dass ihm künftig mehr Einnahmen zufließen.
Es ließe sich einwenden, der Zeitgewinn werde durch eine Fremdbestimmung der Gläubiger kompensiert, die sicher vorhanden ist, aber nicht in dem Maße restriktiv ausfällt, wie das nach dem Brüsseler Diktat vom 13. Juli zu befürchten war.
Schon wer sich die vereinbarten Quoten für den Primärüberschuss beim Haushalt der nächsten Jahre vor Augen hält, kann sehen, dass die Regierung Tsipras auf Spielräume bedacht war, die ihr zugestanden wurden. Beim Etat ohne Schuldentilgung ist in diesem Jahr noch ein Defizit erlaubt. Dann soll es ab 2016 ein Plus von 0,5 Prozent geben. Erst für 2017 und 2018 sind mit 1,75 beziehungsweise 3,5 Prozent höhere Quoten vorgesehen. Sie liegen niedriger, als das EU-Kommssion, IWF und EZB zunächst wollten.
Reizwort Schuldenschnitt
Die Verhandlungsdividende Zeitgewinn gilt übrigens erst recht für einen Schuldenschnitt, für den sich zuletzt besonders der Intermationale Währungsfonds eingesetzt hatte. Dessen Delegierte haben zwar in Athen mit verhandelt, aber bisher keine abrufbaren finanziellen Verpflichtungen übernommen. Die Begründung ist einleuchtend, mit dem dritten Hilfsprogramm wird im Prinzip Gläubiger-Geld zur Verfügung gestellt, um Gläubiger-Forderungen zu bedienen.
An Griechenlands miserabler Schuldenträgfähigkeit ändert sich garn nichts. Im Gegenteil, die Gesamtschulden strecken sich weiter und können schon bald die magische Marke von 200 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung passieren (Anfang 2015: 175 Prozent). In diesem Trend sind die Schrecknisse Staatsbankrott und Grexit fest verankert. Wer sollte daran als externer Investor Gefallen finden, um sich in Griechenland zu exponieren? Ohne Schuldentragfähigkeit gibt es keinen tragfähigen Aufschwung. Daran ändert das neue Hilfspaket absolut nichts.
Um so mehr verdient der Faktor Zeit Beachtung. Vielleicht wird irgendwann oder schon bald eine Schuldenumsturkturierung möglich, die Tilgungszeiten so verlängert und Zinsen derart senkt, dass die Wirkung einem Schuldenschnitt gleicht. Freilich nicht so genannt werden darf, sonst ist ein deutsches Veto gewiss.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.