Die Verhandlungen der Syrien-Kontaktgruppe in München verdienen es, vom Ergebnis her genau analysiert zu werden. Zwar wird allenthalben und zu recht die Aussicht auf eine Feuerpause im Raum Aleppo begrüßt, aber zunächst einmal ist noch unklar, ab wann und unter welchen Konditionen sie gelten soll. Realistisch ist wohl der 1. März, denn im Vorfeld soll es zunächst einmal, so das Münchner Kommunique, eine Kartierung der Kampfzone durch eine Task Force der Kontaktgruppe geben.
Ihr Auftrag, auch die Gebiete zu erfassen, in denen Verbände der islamistischen Al-Nusra-Front und von Daesh stehen. Da sie von den Vereinten Nationen, als "terroristische Organisationen" eingestuft wurden, darf und soll gegen sie weiter gekämpft werden. Dies gilt sowohl für die internationale Anti-IS-Koalition und Russland wie auch die innersyrischen Gegner dieser Kriegsparteien, unter anderem die Assad-Armee.
Diese Regelung wird es erschweren, einen Waffenstillstand im Interesse der Zivilbevölkerung durchzusetzen, der nicht allzu selektiver Natur ist. Nur die Steuerung der Konfliktes durch die USA und Russland kann halbwegs eine Garantie dafür sein, dass eine Feuerpasue zustande kommt, die es erlaubt, humanitäre Korridore zu betreiben und die eingeschlossenen Zivilisten mit Lebensmitteln sowie Medikamenten zu versorgen. Einmal mehr zeigt sich, welch spezifischen Bedingungen die Syrien-Diplomatie unterliegt.
Wo bleiben die Kurden
Bisher lässt sich dazu eines mit Gewissheit festhalten, die Syrien-Diplomatie verzeichnet einen beachtlichen Verschleiß an Syrien-Vermittlern. Die Vereinten Nationen haben es 2011 zunächst mit ihrem einstigen Generalsekretär Kofi Annan versucht, dann Algeriens Ex-Außenminister Lakhdar Brahimi nominiert, der 2014 aufgab und vom italienisch-schwedischen Emissär Staffan de Mistura, dem derzeitigen Mediator, beerbt wurde. Die Wechsel bezeugen weniger das Unvermögen der Akteure. Sie resultieren mehr aus jener Asynchronität oder „Ungleichzeitigkeit“, die heutiger Diplomatie im Umgang mit Krisen des großen Kalibers anhaftet. Vermittlungsmissionen werden den „neuen Kriegen“ nicht mehr gerecht, auch wenn dahinter der kollektive Wille des UN-Sicherheitsrates steht. Dabei treten die „neuen“ nicht nur als „asymmetrische Kriege“ auf, bei denen eine auf terroristische Mittel zurückgreifende, oft staatenlose Guerilla technologisch überlegener Militärmacht von Staaten oder Staatenkoalitionen gegenübersteht. Die um Syrien und den Jemen tobenden Schlachten bedienen ebenso wenig das Raster des klassischen zwischenstaatlichen Krieges oder Bürgerkrieges wie nach 1991 in Jugoslawien.
Welche Parteien und Polaritäten in der Levante auch geltend gemacht werden – sie sind für sich nie dazu angetan, den Konflikt erschöpfend zu erfassen. Weder der religiöse Urzwist zwischen Sunniten und Schiiten (bzw. der in Syrien staatstragenden alawitischen Minderheit) noch der Antagonismus zwischen islamischem und säkularem Staat noch die Rivalität zwischen Regionalmächten wie Iran und Saudi-Arabien sind allein maßgebend. Auch das Muster Regierungstruppen gegen Aufständische taugt nur bedingt für die Anatomie des Horrors.
Die Gegner Assads
Hohes Verhandlungskomitee (HNC)
Als sich Oppositionsgruppen im Dezember in Riad trafen, wurde das Hohe Verhandlungskomitee (HNC) als Dachorganisation für die Syrien-Verhandlungen in Genf formiert. Zum HNC zählen der Syrische Nationalrat (SNC), 2011 in Istanbul als Verbund diverser Exilgruppen gegründet, und das Nationale Koordinierungskomitee für demokratischen Wandel (NCB), in Damaskus als legale Opposition geduldet. In Riad war auch die Freie Syrische Armee (FSA/40.000 Mann unter Waffen) vertreten, ohne sich dem HNC zu unterstellen.
Radikalislamische Verbände
Neben den in Nord- und Zentralsyrien stehenden Verbänden des Islamischen Staates (IS/etwa 45.000 Mann) operiert die sogenannte Eroberungsarmee Dschaisch al-Fatah. Darin haben sich dschihadistische Einheiten zusammengeschlossen, die im Kern von der Al-Nusra-Front (etwa 8.000 Mann) geführt werden. Die Organisation galt einst als Al-Qaida-Filiale in der Levante. Ihre Kombattanten bekämpfen die Freie Syrische Armee wie die Assad-Truppen und wollen einen sunnitisch-islamischen Staat errichten.
Vereinte kurdische Verbände
Die Selbstverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) beherrschen derzeit die meisten kurdischen Siedlungsgebiete im Norden Syriens und an der Grenze zur Türkei. Sie rekrutieren etwa 45.000 bis 50.000 Milizionäre und werden politisch durch die Partei der Demokratischen Union (PYD) vertreten, der enge Kontakte zur Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) nachgesagt werden. Das dürfte der entscheidende Grund dafür gewesen sein, dass die Türkei darauf bestand, die PYD von den Syrien-Talks in Genf fernzuhalten.
Moderate islamistische Verbände
Dschaisch al-Islam (Islamische Armee) und Ahrar al-Scham (Islamische Bewegung der Levante) rekrutieren zusammen etwa 35.000 Kombattanten, die im Norden Syriens stehen und von der Türkei, Katar wie Saudi-Arabien finanziert werden. Bei den meisten Kämpfern handelt es sich um sunnitische Salafisten, die einen syrischen Gottesstaat anstreben. Beide Formationen haben in Riad zunächst mitverhandelt. Dann aber zog sich Ahrar al-Scham zurück und distanzierte sich von den Syrien-Sondierungen in Genf.
Und wo bleiben bei diesem Konflikttableau die syrischen Kurden mit ihrem Verlangen nach nationaler Selbstbestimmung? Welche Torheit, sie aus blankem Opportunismus in Genf auszuschließen, weil die Regierung in Ankara darauf besteht. Keine Frage, Genf III wird scheitern, bleiben Konfliktparteien suspendiert, die Teil des Konfliktes sind. Im Prinzip gilt das ebenso für den Islamischen Staat (IS) wie für die Dschaisch al-Fatah, die dschihadistischen Brigaden der Al-Nusra-Front (s. o.).
Skala des Irrealen
Die Multipolarität des Syrien-Krieges hat für die Syrien-Diplomatie vor allem eine Konsequenz: Bei den an Genf III beteiligten Verhandlungsparteien, der Regierung Syriens und dem Hohen Verhandlungskomitee (HNC), handelt es sich nicht um Akteure, die Kompromisse durchsetzen können. Es fehlt – wenn auch in unterschiedlichem Maße – an exekutiver Macht, um einen Waffenstillstand zu sichern oder eine Übergangsadministration zu bilden, die handlungsfähig und in der Lage wäre, landesweit Wahlen abzuhalten, die zu einem Meinungsbild führen, das allseits anerkannt wird. Diese Skala des Irrealen enthält genau jene Zielmarken, wie sie im November bei den Wiener Syrien-Gesprächen von zwölf Staaten (darunter die USA, Russland, Saudi-Arabien und Iran) gesetzt wurden, sich in Genf aber vorerst nicht implementieren lassen. Dass UN-Vermittler de Mistura dennoch begann, zwischen den Delegationen zu sondieren, war zwei Umständen geschuldet: Er musste wenigstens versuchen, die Wiener Dynamik auf Genf zu übertragen, auch wenn sich abzeichnete, dass er nicht Herr des Verfahrens sein würde. Und es gab – der zweite Grund – besonders in Europa hohe Erwartungen, denen nachzugeben war. Die Syrien-Diplomatie sollte den politischen Druck mindern, wie ihn die Flüchtlingskrise erzeugt – ein Indiz für die Asynchronität zwischen Diplomatie und Realität. Abgesehen davon, dass Genf III auf absehbare Zeit höchstens für den einen oder anderen Minimalkonsens über lokale Feuerpausen gut sein wird, steht außer Zweifel: Ein wann und wie auch immer befriedetes Syrien bleibt ein kriegszerstörtes Syrien und wird Menschen weiter in die Flucht treiben. Wenn die Syrien-Diplomatie eines nicht verdient, dann mit dem Mandat belastet zu sein, Fluchtursachen zu relativieren oder aufzuheben. Dies kann nur dazu führen, dass Konfliktmediation der Konfliktrealität unterliegt.
Wie ist dem zu begegnen? Es gibt keinen anderen Weg, als den komplexen Charakter des Syrien-Krieges vorbehaltlos anzuerkennen und es mit einer Diplomatie vor der Diplomatie zu versuchen. Gemeint sind Vorstadien von Verhandlungen, bei denen es um einen wirklichkeitstüchtigen Abgleich zwischen Vektoren wie dem realen Kräfteverhältnis im Kriegsgebiet, den Interessen der beteiligten Groß- und Regionalmächte, Fragen des Prestiges und der Gesichtswahrung geht.
Russlands Kalkül
Wer so agiert, muss zur Kenntnis nehmen, dass mit dem Einstieg Russlands in den Kampf um Syrien eine veränderte strategische Lage entstanden ist. Wenn sich ein solcher Akteur als Schutzmacht des syrischen Staates derart exponiert, soll dieser Staat gehalten werden. Ob mit dem gleichen Personal, ist nicht gesagt, auf jeden Fall aber als Partner Moskaus. Woraus abzuleiten ist, wer dafür nicht in Betracht kommt – die islamistischen Vorkämpfer eines Kalifats so wenig wie eine von der Türkei protegierte sunnitische Machtfiliale in Damaskus. Einen syrischen Kernstaat zu erhalten, das muss die politische Dividende des russischen Engagements sein. Alles andere wäre der Ernstfall für Präsident Putin. Er dürfte daher genau abgewogen haben, wann und weshalb Russland in Syrien aufgeben und abziehen müsste. Mutmaßlich nur dann, wenn die USA auf die „irakische Lösung“ von 2003 zurückgreifen und eine westliche Militärallianz in der Luft und am Boden interveniert. Präsident Obama ist im September 2014 schon einmal davor zurückgeschreckt. Er tat es, weil ihm willige Koalitionäre fehlten (Berlin hielt sich zurück, in London streikte das Unterhaus), wegen der zu erwartenden eigenen Opfer, aber auch im Wissen darum, dass nach der Invasion ein Besatzungsregime unumgänglich sein würde, wenn aus Syrien kein zweites Libyen werden sollte.
So zynisch es vielleicht klingen mag, der US-Regierung kann nichts Besseres passieren als der Terraingewinn, wie ihn die syrische Armee mit russischem Beistand im Raum Aleppo und darüber hinaus während der vergangenen Tage erzielt hat. Sie kann Russland verbal attackieren, sich militärisch zurückhalten und politisch bestätigt fühlen. Barack Obama dürfte erkannt haben, dass nicht der Sturz, sondern der Fortbestand des Baath-Regimes Teil einer Lösung sein wird. Wäre es anders, müsste er Russland massiv in den Arm fallen. Doch kann auf solchen Maximalismus nur zurückgreifen, wer den maximalen Einsatz nicht scheut. Ohnehin enden die „neuen Kriege“ nicht mehr durch Kapitulation einer Partei, wie Afghanistan zeigt. Für die Diplomatie bedeutet das, sie hat keine Nachkriegsordnungen, sondern die Konditionen auszuhandeln, unter denen offene in eingefrorene Kriege überführt werden. Im Libanon hat das 14 Jahre, von 1975 bis 1989, gedauert.
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