Zur eigenen Rettung vernichtet

Die Schlacht um Falludscha Der Irak sei ein Land der Hoffnung und des Aufbruchs, hatte George W. Bush im Wahlkampf versichert

"Ihr seid dabei, Geschichte zu schreiben", soll der Hauptfeldwebel Carlton Kent seinen 2.500 Marineinfanteristen vor dem Sturm auf die irakische Stadt Falludscha gesagt haben. Wird Geschichte geschrieben, sind stets auch historische Vergleiche zur Hand. Die Schlacht um Falludscha stehe, so Carlton Kent, in einer Reihe mit dem Angriff von US-Truppen vor über 50 Jahren auf Inchon in Korea oder mit der Tet-Offensive 1968 in Südvietnam, als Aufständische "in der Kaiserstadt Hue aufgerieben und vernichtet" wurden.

Der Verweis auf diese Geschehnisse verdient eine genauere Betrachtung. Vor mehr als 36 Jahren, Anfang 1968, hatte die südvietnamesische Befreiungsfront FLN, unterstützt von Verbänden aus Nordvietnam, einen Generalangriff auf US-Stellungen überall im Süden Vietnams ausgelöst. Die Soldaten des "Viet Cong" hissten ihre Fahne über der berühmten Zitadelle von Hue und behaupteten sich 40 Tage lang gegen die wütenden Angriffe der US-Marine und der Air Force. Die Bilder gingen um die Welt und wurden allenthalben als der mögliche Anfang vom Ende des amerikanischen Krieges in Vietnam gedeutet. Zeitgleich mit der Schlacht um Hue gerieten im Mekong-Delta nahezu alle größeren Ortschaften vorübergehend unter die Kontrolle des Widerstandes - auch die Küstenstadt Ben Tre, von der ein Sprecher des US-Oberkommandos in Saigon meinte, sie müsse "zu ihrer Rettung vernichtet werden".

Wenn schon Erinnerungen in Vergleiche münden, dann sollten - mit Blick auf Falludscha - auch diese zu ihrem Recht kommen.

Der Irak-Krieg zeugt hundert Osama bin Ladens

Als sich George W. Bush in den Monaten des US-Wahlkampfes den Irak als Land der Hoffnung und des Aufbruchs schön redete, mochte man das als einen so unvermeidlichen wie absurden Autismus empfinden. Inzwischen ist unbestreitbar, dass die Amnesie dieses Präsidenten offenkundig kein Hinderungsgrund war, ihm eine zweite Amtszeit zu verschaffen. Vielleicht war sie für Bushs Wähler sogar ein guter Grund, weil sie nicht wissen wollen, was sie ahnen.

Man sollte das getrost zu Ende denken. Für die Führungsmacht des Westens, deren reklamierter Wertekanon auch in der Bundesrepublik Deutschland als staatstragend gilt, ist inzwischen ein extrem hoher Grad an Selbsttäuschung nötig und staatstragend, um der Erkenntnis auszuweichen, die an dem frisst, was gemeinhin Zukunft genannt wird: Die stärkste Armee der Welt konnte den Irak zwar erobern und besetzen, aber sie besitzt nicht die Fähigkeit, ihn zu beherrschen. Und ihre politische Führung bleibt alles schuldig, was auch nur den Anschein einer Perspektive haben könnte. Denn mit dem Sturz Saddam Husseins geschah etwas, was nie hätte geschehen dürfen: auch der irakische Staat wurde zerstört. Seit dem 9. April 2003, als Bagdad fiel, ist der Irak ein Land ohne Staat. Alle Versuche des Provisorischen Regierungsrates, diesen Zustand zu ändern, so ehrenwert die Motive seiner Mitglieder im einzelnen auch sein mochten, mussten scheitern, solange sie im Schatten der Besatzungsmacht unternommen wurden und im Geruch der Kollaboration standen.

"Der Irak-Krieg zeugt hundert Osama bin Ladens", warnte der ägyptische Präsident Hosni Mubarak Anfang 2003. Vermutlich hat er nicht übertrieben. Man darf heute fragen, was zeugt die Eroberung Falludschas? Die gewaltsame Aufrechterhaltung der Besetzung des Irak wird einen Widerstand nicht brechen, dessen Anlass die Besetzung des Irak ist. Die exorbitante Demonstration militärischer Überlegenheit wird den Zerstörungswillen eines "Terrorismus" nicht zügeln, dessen Rechtfertigung eben diese Übermacht ist. Dank des US-Regimes im Irak haben die "Terroristen" schließlich erst erfahren können, was alles möglich ist, um der Macht der Ohnmacht zu entkommen und die Supermacht herauszufordern.

In der Konsequenz heißt das, eine Politik, die auf das Vorrecht militärischer Mittel baut und in Wirklichkeit auf totalitäre Weltordnungspolitik hinausläuft, erlebt ein Fiasko, wie es für die Zeit seit dem 11. September 2001 seinesgleichen sucht.

Was folgt auf Falludscha? Samara oder Saddam City - oder Teheran? Denn so lässt sich die irakische Botschaft auch verstehen: Wer immer von der jetzigen US-Regierung als Schurkenstaat stigmatisiert wird - ob Iran, Syrien, Sudan, Somalia, Nordkorea oder Kuba -, kann sich davon überzeugen, welche Lektion ihm droht und wie wenig von einem Staat übrig bleiben kann, wenn die so genannte "Anti-Terror-Kampagne" ein neues Ziel braucht.

Wie einst auf den Feldern Virginias und Georgias

Der CIA-Analytiker Michael Scheuer schreibt in seinem 2004 erschienenen Buch Imperial Hybris. Why the West is Losing the War on Terror: "Um so viel wie möglich unserer Lebensart zu retten, werden wir Militärgewalt anwenden müssen, wie wir es einst auf den Feldern von Virginia und Georgia taten, in Frankreich und auf den Pazifischen Inseln, aus der Luft über Tokio oder Dresden." Scheuer erinnert an General William Sherman und dessen Marsch zum Meer während des amerikanischen Bürgerkrieges, als unterwegs alles ausgerottet wurde, was sich in den Weg stellte. Als galt, nicht nur der Feind ist zu töten, auch seine Infrastruktur muss vernichtet werden. - Das geschah im 19. Jahrhundert und klingt nach Steinzeit oder nach dem, was seit dem 20. März 2003 dem Irak widerfährt.

Nicht allein die Vereinigten Staaten, die politische Kultur des Westens überhaupt ist in eine desaströse, wenn nicht selbstzerstörerische Situation geraten. Präsident Bush und seine Administration - vom Vizepräsidenten bis zum Verteidigungsminister - haben einen Angriffskrieg geführt, der an sich schon ausreichen würde, jeden von ihnen nach den - auch von den EU-Staaten angenommenen - Statuten des Internationalen Gerichtshofes anzuklagen und schuldig zu sprechen. Inzwischen, seit 18 Monaten, werden durch die andauernden Militäroperationen im Irak Tat für Tag weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Alle Welt weiß das, aber im UN-Sicherheitsrat regt sich keine Stimme, dem Einhalt zu gebieten. Welchen Sinn soll es da künftig noch haben, von einer internationalen Rechtsordnung zu sprechen, die verbindliche Standards setzt?

Für die Bundesregierung, deren grüner Part gern zu erkennen gibt, welch edlen zivilisatorischen Geblüts er ist, scheint all das kein Anlass, der nach Distanzierung - geschweige denn Verurteilung - ruft. Das wieder ins Lot gebrachte Verhältnis zu George W. Bush ist wichtiger als 100.000 tote irakische Zivilisten. Nicht nur Zyniker nennen das Realpolitik - die freundliche Umschreibung für eine Politik, die nicht von moralischen Skrupeln behelligt sein möchte. Bleibt uns - wie in Sachen Bush - jene Interessenabwägung erhalten, gehen wir "glorreichen Zeiten" entgegen, in die schon Wilhelm II. führen wollte. Bei ihm sieht man sich wieder. Als zivilisatorischen Fortschritt wird das niemand verkaufen wollen.

Präsident Bush hat sich dank Falludscha mehr denn je in eine Lage manövriert, wie sie für die Amerikaner 1969/70 in Vietnam bestand und zu den Friedensverhandlungen in Paris zwang, dem Vorspiel des Truppenabzugs. Bush kann - militärisch gesehen - im Irak weder verlieren noch gewinnen, er kann lediglich über das Ausmaß der eigenen politischen Niederlage entscheiden durch den Zeitpunkt und die Modalitäten eines Rückzugs. Den im Übrigen eine Regierung Allawi ebenso wenig überleben dürfte wie das für die letzte südvietnamesische Regierung des Generals van Thieu 1975 der Fall war. Überlebt hat damals allerdings die vietnamesische Nation - was wird sich am "Tag X", wenn die Amerikaner gehen, über die irakische sagen lassen?


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