Die (West-)Deutschen hatten schon mehr Glück mit ihren Präsidenten in Paris. Vielleicht nicht gleich mit de Gaulle, aber mit Pompidou und Giscard d’Estaing, in Maßen mit Mitterrand und Chirac. Inzwischen verstehen sich Frankreichs Staatschefs allerdings recht gut darauf, deutsche Kanzlerinnen zu brüskieren, deren Durchhaltewillen ihnen womöglich unheimlich vorkommt. Das galt schon für Nicolas Sarkozy, weniger für François Hollande – es trifft mehr denn je auf Emmanuel Macron zu. Als im Herbst 2008 eine Weltfinanzkrise über Europa hereinbrach, regte Paris ein EU-weites Konjunkturprogramm an, dem Berlin nichts abgewinnen konnte. Verstimmt resümierte Präsident Sarkozy vor der Presse und im Beisein Angela Merkels mäßig charmant: „Frankreich arbeitet daran, Deutschland denkt noch nach.“ François Hollande durfte den deutschen Vormund für seine Staatsfinanzen auskosten, blieb aber blass, verglichen mit dem Nachfolger und dessen Hang zum großen Wort und Wurf.
Ignoranz und Abwehr
Emmanuel Macron ist um Überinszenierung nicht verlegen, auf Klartext bedacht und von reformerischem Ehrgeiz beseelt. Vielleicht hat ihn die Kanzlerin in den nunmehr zweieinhalb Jahren seiner Amtszeit einmal zu viel an sich abtropfen lassen. Derzeit revanchiert er sich geradezu hingebungsvoll. Kolportiert wird, Merkel habe sich jüngst darüber beklagt, „immer wieder die Scherben aufsammeln“ zu müssen, die dieser Präsident hinterlasse. Mutmaßlich ist damit die Blockade einer um Albanien und Nordmazedonien weiter aufgestockten EU gemeint, wohl auch das Lob aus dem Élysée für Viktor Orbán und seinen entkrampften Umgang mit Russland, ganz gewiss die präsidiale Botschaft vom Hirntod der NATO. Hat man sich früher darauf verlassen können: Je energischer dies dementiert wird, desto angeschlagener ist das deutsch-französische Verhältnis, wird inzwischen kein Hehl aus unverkennbarer Entfremdung gemacht. Manfred Weber, Fraktionschef der konservativen EVP im Europaparlament, wirft Viktor Orbán und Macron gleichermaßen vor, „die gesamte Idee der Demokratisierung Europas zu beschädigen und zurückzudrehen“. Da klingt mehr durch als die Frustration eines designierten und durch französisches Veto verhinderten Kommissionspräsidenten, da entladen sich Ressentiments gegenüber einem Politiker, der häufig (und gern?) in der EU den Eindruck erweckt, durch reformerischen Hyperaktivismus die Regierung Merkel als Status-quo-versessen, stur und schwerfällig vorzuführen.
Kurz nach seiner Amtsübernahme präsentierte Macron eine Agenda, die auf eine „Neugründung Europas“ hinauswollte. In der Sorbonne-Rede Ende September 2017 wurden ein gemeinsames Budget der Eurozone, eine EU-Asylbehörde, eine EU-Staatsanwaltschaft, die sich der Organisierten Kriminalität und des Terrorismus annimmt, eine EU-Zivilschutz-Agentur zum Klimaschutz und eine EU-Agentur für „radikal neuartige Innovationen“ angeregt, die sich der Digitalisierung widmen sollte. Das meiste davon kann nur noch Erinnerungswert beanspruchen. Allein das Eurozonen-Budget steht in Aussicht, doch ohne nennenswerte Finanzausstattung.
Dass der Erneuerer mit nahezu all seinen Vorhaben auf Ignoranz und Abwehr stieß, hat ihm nicht zuletzt innenpolitisch eine fatale Bilanz beschert. Schließlich hat Macron stets den dualen Ansatz betont: Wie wir Frankreich verändern, treiben wir den Wandel Europas voran. Die Steuer-, Arbeitsmarkt- und Renten-Reformen sind mit einem Umbau der EU verschränkt, die – statt ein neoliberales Monster zu sein – Wohlfahrt und Wohlstand dient. Diese Option, mit der Realität nicht unbedingt auf Tuchfühlung, erscheint allein deshalb nötig, weil es um das Prestige der EU in Frankreich nicht zum Besten steht. Das Vordringen von Marine Le Pen in die zweite Runde der Präsidentenwahl 2017, der Zuspruch für den rechtsnationalen Rassemblement National (RN) überhaupt – all das ist zwar bisher kaum regierungsmächtig, aber auch mehr als das Störfeuer einer Minorität. Zudem hat die Regierung Macron den Gelbwesten-Protest als sozialen Aufruhr hinnehmen müssen, der sie Autorität und Ansehen gekostet hat.
Es fällt schwer, sich der Annahme zu erwehren, dass Macron als epochaler Unruhestifter ohne Fortune nunmehr eine gewagte Flucht nach vorn antritt, die ihn zurück in den Gaullismus führt. Es war die Maxime von General de Gaulle, als mit ihm 1958 die V. Republik ins Leben trat, nationale Identität durch den demonstrativen Anspruch auf Souveränität zu erhärten. Wann immer es sich anbot, sollte Frankreich innerhalb des westlichen Lagers selbstständig handeln. So zog de Gaulle sein Land 1966 aus den Kommandostrukturen der NATO zurück, mit der Begründung, die Dominanz der USA sei unannehmbar.
Affront gegen Stoltenberg
Wenn nun Macron „gaullistisch agiert“, dann unter gänzlich anderen, fast gegensätzlichen Bedingungen als seinerzeit de Gaulle: Die Regierung Trump behandelt die Allianz stellenweise wie ein Fossil, dessen Zeit gekommen ist. Statt auf Hegemonie bedacht sind die USA eher auf dem Rückzug, sodass die NATO einer Daseinskrise nicht länger entkommt. Macron bescheinigt ihr gar den strategischen Burnout und will daraus Konsequenzen ziehen. Beim Pressestatement im Élysée-Palast neben einem entgeistert wirkenden NATO-Generalsekretär Stoltenberg stehend, fragte er vor Tagen in Paris: „Gegen wen verteidigen wir uns – gegen Russland, gegen China? Das glaube ich nicht.“ Mit einer Frage und einem Satz wurde ein ganzer Konfrontationsmodus in Frage gestellt, in den sich die NATO allein mit ihrer Ukraine-Politik, ihren Truppen-Stationierungen in Polen und im Baltikum, ihrer Gegnerschaft zu Russland und möglichen Vorstößen in den indopazifischen Raum manövriert hat. Der Affront galt nicht nur dem Hardliner Stoltenberg. Macrons Botschaft richtete sich zwangsläufig an Deutschland und seine Kanzlerin, die den Zustand der NATO federführend zu verantworten haben. Dabei ist nicht entscheidend, ob Macron einen partnerschaftlichen Umgang mit Moskau bevorzugt, wie de Gaulle einst auf einen selbstbestimmten Dialog mit der Sowjetunion Wert legte. Es geht vielmehr darum, eine nicht mehr zeitkompatible NATO als Grund dafür geltend zu machen, dass transatlantische Prioritäten durch mehr europäische Selbstverantwortung und Geltungsmacht ersetzt werden.
Diese Absicht vor dem Londoner NATO-Gipfel zu artikulieren, birgt Brisanz. Besonders für die deutsch-französischen Beziehungen, denen ein strategischer Dissens zusetzt: Emmanuel Macron will einem Frankreich geopolitische Statur verschaffen, das sich auf europäische Militärmacht, etwa eine EU-Verteidigungsunion, stützt, die von der NATO wie den üblichen transatlantischen Zwängen emanzipiert ist. Deutschland dagegen ist als europäische Führungsmacht auf geopolitische Relevanz im Verbund mit der NATO bedacht. Kanzlerin Merkel betrachtet die transatlantische Verankerung fast schon verbissen als allein maßgebliche Geschäftsgrundlage deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. Weil dies – aus Sicht Macrons – den Interessen Frankreichs widerspricht, verweigert er dem Verharren in derartigen Denkmustern die Gefolgschaft. Bis auf Weiteres jedenfalls.
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