Großbritannien lag im Fieber, schon lange vor dem Attentat auf die Labour-Abgeordnete Jo Cox. Die Kampagnen vor dem Brexit-Referendum schienen außer Kontrolle geraten und ließen vom Gegner oft nur den Feind übrig. Sie ist eben hauchdünn geworden, die Glasur der Zivilität und politischen Kultur in Europa. Die Briten reklamieren da keine Ausnahme, sondern bestätigen Regeln, die längst keine mehr sind. Das Aufpeitschen der Stimmungen konnte sich auch daran entzünden, dass Volksentscheide keinem Missbrauchsverbot unterliegen. Sie taugen weder zum demokratischen Urknall noch zum Hochamt der Volkssouveränität und verdienen es nicht, kritiklos hofiert zu werden. Derartige Voten können Verfassungsgebot sein wie 2005 die Referenden in Frankreich und den Niederlanden über eine Magna Charta der EU, aber genauso Ausdruck eines Machtkalküls, wenn Regierungen wie die britische darin eine existenzsichernde Maßnahme sehen. David Cameron versprach vor der Unterhauswahl 2015 ein baldiges EU-Referendum, um – von EU-Antipathien zehrend – seine Wiederwahl zu sichern. Er musste danach erfahren, was es heißt, einen Brand zu legen und dann mit den benutzten Brandbeschleunigern das Feuer löschen zu wollen.
Die Geschichte hält Beispiele bereit, wie Diktaturen Volksentscheide nutzen, um den Eindruck zu erwecken, sie gründeten auf Volkes Willen und seien dazu da, diesem zu genügen. Man denke an die Saar-Abstimmung von 1935, die zwar auf den Völkerbund zurückging, aber von den Umständen her dem NS-Regime zum Legitimationsschub verhalf. Es gab gute Gründe für die Autoren des westdeutschen Grundgesetzes, für Volksentscheide auf Bundesebene kaum überwindbare Hürden aufzustellen.
Wer dieses große Rad nicht drehen will, sollte wenigstens die Frage zulassen: Ist Großbritannien mit der EU nicht in einem Maße verwoben, dass es dem Bürger verwehrt ist, um die Konsequenzen von Sein oder Nichtsein in dieser Union zu wissen? Zumal er sich auf das Urteil von Politikern kaum verlassen kann, deren Dasein statt auf Integrität und Expertise auf Wählbarkeit gründet.
Plebiszitäre Voten wie das britische verheißen insofern keine Sternstunde der Demokratie – sondern liefern ein Zerrbild derselben im Zeichen von Markträson und EU-Zerfall. Sie erinnern an Parlamentsentscheide aus jüngster Zeit, bei denen Abgeordnete als Krisenmanager gebeten waren, ohne sich darüber im Klaren zu sein, welche Krise sie mit dem soeben beschlossenen Hilfspaket eigentlich bekämpfen. Die der Finanzmärkte? Die der Banken, der öffentlichen Haushalte oder der Staaten, die als Megaschuldner dahinsiechen? Die Krise der Demokratie? Diese ist schließlich am wenigsten gefragt, wenn es ernst wird, wie Griechenland das mehrfach erleben durfte. Erst wollte 2011 der damalige Premier Papandreou ein Referendum über die Auflagen der EU-Finanzhilfen ansetzen und wurde von der deutschen Kanzlerin zurückgepfiffen. Dann versuchte es 2015 Alexis Tsipras, versicherte sich am 5. Juli des Beistands einer Mehrheit gegen erneute Spardiktate und wäre von den Gläubigern um Haaresbreite mit dem Staatsbankrott bestraft worden.
Welchen Sinn haben Volksabstimmungen, die zu strafwürdigen Handlungen werden? Bürger sind keine Billardkugeln, die herumgestoßen sein wollen, um zu verschwinden. Volksentscheide verleiten dazu, dies zu tun. Was besonders dann fatal ist, wenn in Europa überall nationale Bewegungen bereitstehen, um bei Referenden über das Schicksal der EU die Systemfrage zu stellen.
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