Es ist keine Entscheidung im britischen Unterhaus erinnerlich, bei der eine britische Regierung eine derart krachende Niederlage hinnehmen musste. Der Entzug von Vertrauen in Theresa May als Premierministerin ist eklatant und schwerwiegend, aber zugleuch weder fair noch gerecht. Sie wurde zum Sündenbock – stigmatisiert als Inkarnation einer Kapitulation vor den harten Positionen der EU.
Aber wie sollte es anders sein? Brüssel hat nun einmal Kompromisse dort verweigert, wo diese aus EU-Sicht auf unzulässige Konzessionen hinausliefen. Wenn sich die Staatenunion als Rechtsgemeinschaft empfindet, die dem Credo folgt, gleiche Recht und Pflichten für alle, dann kann es für die Briten keine Sonderrecht beim Austritt geben. Das heißt, die weiterhin durchlässige und wenn möglich unsichtbare Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland hat zur Voraussetzung, dass Großbritannien in der Zollunion bleibt. Dies kann noch Jahre so bleiben, da ein Handelsvertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und der Rest-EU nicht von heute auf morgen ausgehandelt sein wird. Es gibt zu dieser alles andere als verdeckten Mitgliedschaft trotz Brexit keine Alternative, es sei denn die des Ausstiegs gänzlich ohne Vertrag.
Es wäre nun ein Frage des politischen Anstands und der geltenden Bräuche, würde Theresa May abtreten und den Weg für Neuwahlen freimachen. Aber jeder Nachfolger wäre dem gleichen Dilemma ausgesetzt: Die mit dem Brexit erwünschte Rückkehr zu voller politischer Selbstbestimmung zementiert eine harte Grenze zwischen Nord und Süd auf der irischen Insel – der gefährdet und unterminiert das Karfreitagsabkommen, der spielt mit dem inneren Frieden.
Lebenswelt voller Zumutungen
Zu Beginn dieser entscheidenden Woche für Großbritannien und die EU hatte Ex-Außenminister Boris Johnson in einer Kolumne noch einmal versichert, dass ein No-Deal-Brexit die beste aller denkbaren Lösungen sei. Für manchen Brexiteer scheint es Verrat an der Nation zu sein, wird nicht der härteste aller harten Abgänge aus der EU angesteuert. Patriotismus schlägt in Nationalismus, Nationalismus in Chauvinismus um. Es herrscht einen Bekenntnisdrang, der an notorische Reflexe erinnert. Die britische Politik sorgt für viel hysterische Spiegelfechterei, die einerseits von Zeitgeist kündet, zugleich aber auch dem vereinten Europa ein vielsagendes Zeugnis austellt.
Anders als bei Goethes Mephistopheles wirkt die Europäische Union in den Augen vieler Europäer längst als ein Teil von jener Kraft, die vorgibt, stets das Gute zu wollen, aber – anders als versprochen – viel Böses schafft. Oder beidem zugeneigt ist. Die EU ist Quelle von Integration und Desintegration, verstiegenem Hass und ebensolcher, teils blinder Zuneigung, Anerkennung und Verachtung, Nationalismus und Internationalismus.
Derzeit ist sie nicht zuletzt Sozialpatrioten im Osten und Westen des Kontinents als neoliberale Zumutung suspekt. Dass eine Staatenassoziation, die einmal dem Ost-West-Antagonismus zu verdanken war, inzwischen derart gegensätzlich antizipiert wird, hat Gründe. Und die waren auch für die Brexit-Mehrheit in Großbritannien nicht ohne Belang.
Die EU bleibt überzeugende Antworten auf Phänomene schuldig, die in allen Mitgliedsstaaten als existenzielle Herausforderung wahrgenommen werden – die Folgen der Globalisierung und die „Flüchtlingskrise“ etwa, den unzureichenden Schutz gegen die nächste Finanzkrise, eine fortschreitende soziale Zerklüftung der Gesellschaften in Europa, die immer mehr Bürger als eine Lebenswelt voller Zumutungen bewältigen müssen. Auch eine Folge davon, dass die technokratischen Eliten in Brüssel sozialpsychologische Folgen getroffener Entscheidung übersehen, unterschätzen oder missachten. Was bedeutet es für Millionen Europäer, wenn die seit 2015 geltende Nullzinspolitik der EZB die private Altersvorsorge mindestens einer Generation zerstört?
Take back control
Vor dem britischen Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 lautete eine Parole der EU-Gegner: Wir wollen nicht, dass unsere Gesetze weiter in Brüssel beschlossen werden – „take back control“. Zwar hat sich das angesichts der absehbaren Ausstiegsszenarien als illusionär erwiesen, doch reflektierte dieser Slogan, dass auf politische Selbstbestimmung mehr Wert gelegt wird als auf die Vorteile von Binnenmarkt und Zollunion. Auch aus diesem Impuls heraus haben Mitte 2016 in Großbritannien gut 52 Prozent für eine Abkehr von der EU votiert. Wie dazu seit langem vorliegende Analysen beschreiben, sagten vornehmlich die wirtschaftlich weniger Erfolgreichen, die nicht genügend Ausgebildeten, die sozial konservativ Eingestellten, die ländliche Community: „Nein, es reicht.“
Wie würden sie sich entscheiden, sollte es ein zweites Plebiszit geben? Ein solches Votum wird derzeit viel zu sehr als Politikum gedeutet, während die damit heraufbeschworenen rechtlichen Fragen und nötigen gesetzgeberischen Akte fast völlig ignoriert werden. Wenn man dies als Hürden begreift, dann sind diese sehr hoch.
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