Dass Regierungen im Sog des Aufruhrs untergehen, ist für diesen Kontinent kein seltenes Phänomen, wie im Augenblick zu ersehen. In Ecuador lassen indigene Gemeinschaften nicht zu, dass Kostgängerei beim IWF auf ihre Kosten stattfindet. In Chile wird soziales Unrecht nicht länger als Missstand beklagt, sondern als Misshandlung empfunden, die Widerstand verdient, wie das auch für die Attitüden eines wirklichkeitsfremden Präsidenten gilt. Die Argentinier haben es satt – zum wievielten Mal? –, in den Mahlstrom eines Staatsbankrotts zu geraten, und wählen mit Mauricio Macri nicht nur ihren Staatschef, sondern auch dessen neoliberalen Furor ab. Bolivien bebt wegen einer Präsidentenwahl, die ein Indiz dafür sein kann, dass ein linker Amtsinhaber wie Evo Morales die Grenzen seiner selbst nicht wahrhaben will.
Zeigt sich erneut, was der chilenische Dichter Pablo Neruda im Canto General als unvergängliche Würde Lateinamerikas begreift? Er schreibt: Wenn der Baum wächst, wird es ein Baum des Sturmwinds sein. „Des Volkes Baum. Seine Helden gehen aus der Erde hervor wie aus dem Saft die Blätter.“ Und sorgen dafür, ließe sich anfügen, dass diesen Erdteil zuverlässig die Wellen des Wandels tragen – dass despotische wie demokratische Regierungen fallen, revolutionärer Aufbruch zum Vorspiel reaktionärer Restauration wird, Keynesianismus und Austerität wechseln, auf nichts mehr Verlass ist als auf die Fluktuation der Regime. Auf den Linksschwenk in den 1970ern mit dem Referenzprojekt Unidad Popular in Chile folgen teils faschistoide Diktaturen in Argentinien, Uruguay, Bolivien – nach dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Allende 1973 extrem brutal in Chile. In Brasilien und Paraguay haben seinerzeit rechte Autokratien schon länger Bestand. Sie alle erfahren von der Endlichkeit ihres Daseins, als ab Mitte der 1980er eine demokratische Wende die Rückkehr zu Pluralität und Verfassungstreue erlaubt. Freilich ändert sich mit der politischen Ordnung kaum je das wirtschaftlichen System. Allein in Venezuela deutet sich Ende des 20. Jahrhunderts die Ausnahme an, mit Hugo Chávez und seinem Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Selbst wenn sie dieses Tableau nicht übernehmen, schlagen Bolivien mit Evo Morales (ab 2006) und Ecuador mit Rafael Correa (ab 2007) einen ähnlichen Weg ein – auch die ihre kommunistisch-sozialistische Tradition achtende Linke in Uruguay, wo sich die seit 1971 bestehende, oft geschlagene, nie verschwundene Allianz Frente Amplio durchsetzt. Sie gönnt sich und dem Land mit José Mujica ab 2010 einen früheren Guerillero als Präsidenten, der jeden Tag seine Finca mit einem alten VW verlässt, um ins Präsidentenbüro nach Montevideo zu fahren. In jener Zeit halten es selbst Argentinien und Brasilien mit dem Umbruch. Der charismatische Gewerkschafter Lula da Silva und der linksperonistische Präsident Néstor Kirchner führen Regierungen, denen die Menschenwürde der Unterschichten nicht gleichgültig ist.
Prompt holt das oligarchische Establishment zum Gegenschlag aus. Nicht schuldlos werden Spitzenpolitiker der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) kriminalisiert, um durch moralisierende Ächtung ihren Absturz zu beschleunigen. In Buenos Aires schämen sich Cristina Fernández de Kirchners Linksperonisten der statokratischen Veranlagung nicht und überfordern den Staat in gleicher Weise, nur zu einem anderen Zweck als zuletzt Präsident Macri. Ob in diesem Fall, in Venezuela, Bolivien, Ecuador – Lateinamerikas Linke ist geübt darin, sich ihren Gegnern auszuliefern. Sie wirkt wie der Wind, der eine wogende Menge vor sich hertreibt, statt sie für alle Zeit zu sammeln und zu gewinnen.
Warlord

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Chiles Staatschef Sebastián Piñera (im Amt seit 2018) hat offenbar das Gespür für die Lage von Millionen Landsleuten verloren. Die fühlen sich von steigenden Lebenshaltungskosten an den Rand des Existenzminimums gedrängt und sind Opfer eines Privatisierungswahns, der bis zum Renten- und Gesundheitssystem reicht. Als steigende U-Bahn-Preise zu Massenprotest gegen sozialen Kahlschlag führen, redet Piñera von „gut organisierten Feinden“, gegen die er in den „Krieg“ ziehe. Nun soll sich sein Kabinett für ihn opfern.
Zauberlehrling

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Argentiniens Präsident Mauricio Macri (im Amt seit 2015) hat es mit seiner Regierung in vier Jahren fertiggebracht, die Wirtschaft Richtung Staatsbankrott zu manövrieren. Das gewohnte neoliberale Muster: auf Ex- und Importsteuern verzichten, den Markt öffnen, in Steueroasen geparktes argentinisches Kapital legalisieren – und davon dann doch nichts haben. Macris versprochene „Investitionsflut“ blieb aus. Bei der Präsidentenwahl am 27. Oktober hat er wie erwartet klar gegen den Peronisten Alberto Fernández verloren.
Ewiger Präsident

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Boliviens Staatschef Evo Morales (im Amt seit 2006) hat viel für die Rechte der indigenen Gemeinschaft seines Landes getan und deren Lebensstandard angehoben. In letzter Zeit jedoch wird Morales immer mehr als Anwalt der Koka-Bauern gesehen, der indigene Interessen verrate. Zudem war seine Kandidatur für die nunmehr vierte Präsidentschaft umstritten. Umgehend zweifelt die Opposition seinen nach dem Votum vom 20. Oktober verkündeten Wahlsieg an. Es gibt Unruhen, die auch soziale Spannungen reflektieren.
Muster-Linker

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Uruguays linker Präsident Tabaré Vázquez (seit 2015) regiert noch bis März 2020. Seine Linksallianz Frente Amplio (FA) kommt mit ihrem Präsidentenbewerber Daniel Martínez am 27. Oktober nicht auf die nötige Mehrheit und muss in die Stichwahl. Nicht zu seinem Nachteil wird das Land seit 15 Jahren von Linksregierungen geführt. Das ließ soziale Gräben einebnen. Uruguay hat das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika. Die Frente Amplio ist das Opfer zweier Phänomene: des Verschleißes von Macht und der Last des Erfolgs.
Binnenflüchtling

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Ecuadors Präsident Lenín Moreno (seit 2017 im Amt) steht zunächst für sozialreformerische Kontinuität, dann gerät er durch Gerüchte über dubiose Kontakte mit Offshore-Firmen in Panama und Belize heftig unter Druck. Im September entlädt sich auf den Straßen viel Wut über gestrichene Kraftstoff-Subventionen. Der IWF will nur unter dieser Bedingung einen Kredit vergeben. Lenín Moreno – zu lange damit beschäftigt, sich von seinem linken Vorgänger Correa abzugrenzen – muss plötzlich sogar die Hauptstadt Quito verlassen.
Caudillo

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Als Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro Anfang 2019 antritt, fehlt es nicht an Ansagen: Er wolle das Werk der zwischen 1964 und 1985 autoritär regierenden Obristen „vollenden“. Doch folgt bisher auf die Rhetorik des Caudillo nicht die Rückkehr zur Diktatur. Die Gegensätze in Brasilien sind viel zu brisant, als dass Bolsonaro riskieren wollte, was in Chile losbrach. Allein wie sich indigene Gruppen Rodung und Brandstiftung in der Amazonasregion widersetzen, zeigt, dass Gegenwehr auch Aufstand bedeuten kann.
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