Mit der angestrebten Ausdehnung der EU nach Osteuropa wird sich deren ökonomisches Entwicklungsgefälle in bestimmten Bereichen schon mit den Bewerbern der ersten Staffel (Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien und Estland) von derzeit 1 : 3 auf 1 : 30 vergrößern. Was bedeutet das für die politische und soziale Stabilität im "Erweiterungsraum"? Geraten die Neuaufnahmen zum hochriskanten Vabanque-Spiel - nicht zuletzt für die Union selbst? Wie vor allem verhalten sich die politischen Eliten in den betroffenen Staaten selbst? Diesen und anderen Fragen ist der Kölner Sozialwissenschaftler Lutz Schrader in seinen Betrachtungen zur politischen Dimension der Osterweiterung nachgegangen. Der zweite Teil seines Artikels folgt in der nächsten Ausgabe.
Es steht außer Zweifel, die derzeit tonangebenden, westorientierten Eliten in den mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) propagieren zur Absicherung der bisherigen Reformen das Leitbild Europa. Sie brauchen dessen integrierende Kraft, um für einen entbehrungsreichen Transformations- und Modernisierungskurs in ihren Bevölkerungen Akzeptanz zu finden. Der Slogan "Rückkehr nach Europa" wurde unmittelbar nach 1989 zur beherrschenden Vision dieser Gesellschaften. So gesehen, liegt der Osterweiterung eine genuin politische Logik zugrunde - zu beschreiben als Balance zwischen dem Maß des den westeuropäischen Gesellschaften Zumutbaren einerseits und dem Übermaß an Hoffnungen der mittelosteuropäischen Gesellschaften andererseits. Wir erleben den Versuch, für die Westeuropäer den "Schrecken" der EU-Öffnung nach Osten zu minimieren und dennoch für die Mittel- und Osteuropäer die Verheißung der "Rückkehr nach Europa" einzulösen.
Die Reformeliten als Juniorpartner ihrer westeuropäischen Mentoren
Doch was auf den ersten Blick wie eine schlüssige, ja alternativlose politische Strategie aussieht, hat seine nicht minder politischen Tücken. Das zeigt schon ein Vergleich der Ziele und Motive, die von den MOE-Staaten mit der Osterweiterung verknüpft werden.
Während für die EU-Staaten die Erweiterung vor allem deshalb attraktiv ist, weil sie ein Mehr an kontinentaler und globaler Macht und Handlungsfähigkeit ohne Verlust an Sicherheit und Identität verspricht, dominiert bei den Aspiranten die Erwartung, möglichst schnell die Folgen der System- und Umbruchskrise zu überwinden und in die europäische Wohlstandszone vorzustoßen. Ziele und Motive beider Seiten sind wie in einem Gospelgesang aufeinander bezogen. Auffällig ist allerdings eine gewaltige Asymmetrie zugunsten des EU-Pols. Für die Westeuropäer steht außer Frage, dass sich die Bewerber aus dem Osten auf die EU zubewegen und den acquis communautaire (*) ohne Abstriche übernehmen. Gemessen an den bisherigen Beitrittsverhandlungen scheinen die Kandidaten diese Position relativ widerspruchslos zu akzeptieren. Ihr Los besteht allein darin, sich auf eine schwierige und entbehrungsreiche Aufholjagd einzustellen. Um so lernwilliger sie ihrem westeuropäischen Vormund folgen, desto sicherer können sie auf dessen Beistand rechnen. Die gelehrigsten und erfolgreichsten werden mit der Aufnahme belohnt. Mit anderen Worten: das Zentrum Westeuropa definiert, diszipliniert und ordnet die Peripherie Mittel- und Osteuropa.
Möglich ist das nur, weil sich nach dem Zusammenbruch der "großen Ideologien" die reformbereiten, liberalen Eliten in den MOE-Staaten auf das Positiv-Image des Westens verlassen. Sie stilisieren Westeuropa zur "Bezugsgesellschaft" - das heißt zum normsetzenden Modell der Nachahmung. Sie manövrieren sich damit in die Rolle des Juniorpartners und Zöglings ihrer westeuropäischen Mentoren.
Um die Diskurshegemonie im eigenen Land zu behaupten, nehmen die westorientierten Reformparteien in Mittelosteuropa dabei aus freien Stücken die Hegemonie der EU-Staaten in Kauf. So werden weitgehend von westeuropäischen Standards bestimmte Vorgaben für alle Aspekte der Modernisierung (Erziehungswesen, Rechtssystem, Wirtschaftssystem, politische Strukturen) transplantiert. Der Lebensstandard, die Verwaltungseffizienz und eine vergleichsweise entwickelte demokratische Kultur tragen dazu bei, den Raum Westeuropa "sakral" auszuzeichnen.
Neben der offenkundig gestörten "Wir-Ich-Balance" (Elias) auf Seiten der MOE-Staaten birgt dieses Vorgehen das Risiko, eine wachsende Zahl von Modernisierungsverlierern (Arbeitslose, Arme, Minderheiten) zurückzulassen. Diese out-groups und die sich zu ihren Interessenvertretern aufschwingenden Eliten halten folgerichtig nach Identitätsbeständen Ausschau, die geeignet sind, die Reformen und die Osterweiterung zu stören. Sie bevorzugen Leitbilder wie Nation, Region und Ethnizität - Elemente der sozialen und kulturellen Identität, die erfahrungsgemäß eine besondere Beharrungskraft besitzen.
So ist in den Beitrittsländern über den Kreis der Transformationsverlierer hinaus heute erkennbar weniger EU-Enthusiasmus zu spüren. Statt dessen überwiegen Skepsis und Ablehnung angesichts eines westlichen Übergewichts, das als Kolonialisierung, Bedrohung für lokale Wirtschaftsinteressen und die eigene Identität wahrgenommen wird.
Westeuropas "Staatsnationen" als Muster osteuropäischer "Volksnationen"
Wie ein Blick nach Westeuropa verrät, handelt es sich bei den Re-Nationalisierungs- und Re-Ethnisierungstendenzen beileibe nicht um eine allein auf Mittelosteuropa beschränkte atavistische Verirrung. Natürlich gibt es dort Besonderheiten. So erklärt sich die hohe Wertigkeit des Nationalen wohl auch daraus, dass die Völker ihre nationale Souveränität gerade erst wiedergewonnen haben und das neu oder erstmals begonnene nation building parallel zur Integration in die Weltwirtschaft und die EU stattfindet. Das steigert nicht gerade die Bereitschaft, im Falle eines EU-Beitritts dem Transfer von Souveränitätsrechten zuzustimmen. Die Vorbehalte werden durch die wenig sensible Diskreditierung jeglicher nationaler Orientierung durch Vertreter von EU-Staaten und westeuropa-orientierter Reformeliten zusätzlich angestachelt. Wenig erfolgversprechend erscheinen auch Versuche, die ethnisch fragmentierten mittel- und osteuropäischen "Volksnationen" dem Muster westeuropäischer "Staatsnationen" anzunähern.
Anstatt nun das Nationale in ihre Identitätspolitik zu integrieren, treten in den MOE-Staaten die Anhänger einer Politik der Europäisierung nicht selten mit national gesinnten Eliten in Konkurrenz um die Diskursherrschaft. Sie provozieren damit eine unnötige Polarisierung und überlassen den Gegnern einer Demokratie und Marktwirtschaft verpflichteten europäischen Einigungspolitik das Terrain. Sie riskieren - besonders für den Fall einer Verdunkelung der Beitrittsperspektive, ihre politische Isolierung und eine Erosion der europäischen Idee. Ein Vorgang, der im Verbund mit nationalen und nationalistischen Strömungen dramatische Folgen für die Osterweiterung haben kann. Hier wird allen Europa-skeptischen und reformfeindlichen Kräften nationalistischer, nationalromantischer, religiöser und tribalistischer Provenienz gratis und ohne Not ein ungemein mobilisierungsträchtiges Thema überlassen.
Ein erstes Abflachen der pro-europäischen Euphorie ist nicht zu übersehen. Gerade in dieser Situation sind die auf die EU orientierten reformwilligen Eliten darauf angewiesen, als glaubwürdige Verwalter des Gefühlshaushaltes ihrer Bevölkerungen angesehen und akzeptiert zu werden.
Fortsetzung folgt
(*) Gemeinsamer Besitzstand im Sinne von Rechtsnormen der EU.
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