Eine neue Gesellschaft

CDU-VERTEIDIGUNG DER NGO'S IN SICHT? Dreifache demokratische Legitimation, auch ohne Wahlen und Parlamente

Als Greenpeace mit der Kampagne gegen die Versenkung der Shell-Erdölplattform Brent Spar im Sommer 1995 Furore machte, wurde die Frage nach der demokratischen Legitimation von NGO's zum Thema einer kontrovers geführten Debatte. Damals warnte gar die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan vor der "Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages" und der Rückkehr zum Hobbes'schen "Naturzustand". Doch auch jenseits dieses überzogenen Alarmismus bestehen viele Vorbehalte gegenüber der Demokratie-Mündigkeit zivilgesellschaftlicher Organisationen innerhalb der parlamentarischen Demokratie.

Aus der Nähe betrachtet zeigt sich, dass der übergroße Teil der NGO-Tätigkeit sehr wohl noch durch die Prinzipien und Spielregeln der parlamentarischen Demokratie abgedeckt und legitimiert ist. Zugleich aber weisen immer mehr NGO-Aktivitäten über die Logik der parlamentarischen Demokratie hinaus. Gemeint sind erste Ansätze des "Mitregierens" zivilgesellschaftlicher Akteure in Verhandlungssystemen oder Netzwerken auf der subnationalen, nationalen und transnationalen Ebene. Allerdings bringen nicht die NGO's die parlamentarische Demokratie ins Wanken, vielmehr ist ihr Anspruch auf Machtteilhabe Ausdruck der Krise des liberalen Demokratiemodells.

Doch eins nach dem anderen. Ob eine politische Handlung demokratisch legitim, das heißt in ihrer sozialen Geltung rechtens ist, hängt davon ab, ob sie sich auf konstitutive Verfahren wie Wahlen und Referenden stützt, ob ihr demokratische Grundnormen (also gesellschaftlich geteilte Werte) zugrundeliegen, und sie die Anerkennung der Bürger genießt. Ausgehend davon, lassen sich drei Grundmuster demokratischer Legitimation von NGO-Handeln ausmachen: die (basis-)demokratische Legitimation, die normative Legitimation (auch bei Regelverletzungen) sowie die Legitimation durch gesellschaftliche Anerkennung.

Die basisdemokratische Legitimation

Die Vermittlung von Repräsentation und weitgehender Einbeziehung des souveränen Volkes in die politischen Entscheidungen ist nur zu leisten, wenn die Verfahren der repräsentativen Demokratie immer wieder durch Formen basisdemokratischer und plebiszitärer Mitbestimmung ergänzt und (re-) vitalisiert werden. Als basisdemokratische Akteure par excellence unterstützen Bürgerinitiativen und NGO's lokale Projekte, um alternative Politikansätze zu implementieren. Indem sie von der nationalen Politik vernachlässigte Themen in den Politikprozess einbringen, schlagen sie eine Brücke zwischen der lokalen und der nationalen Ebene.

Sie tragen so zur Legitimierung der politischen Ordnung bei. Indem NGO's den Bürgern zusätzliche Wege öffnen, gegenüber den Regierungen und der Wirtschaft auf ihre Präferenzen aufmerksam zu machen, steigern sie zugleich auch ihre eigene Legitimität.

Die Regelverletzung

Werte wie Gemeinwohl, Menschenrechte, Gerechtigkeit, Solidarität, Frieden und der Erhalt von Lebensgrundlagen der Menschheit sind für das Engagement von NGO's konstitutiv. Reibungen mit der bestehenden parlamentarischen Ordnung treten erst dann auf, wenn NGO's bewusst das Risiko in Kauf nehmen oder es sogar darauf anlegen, nationales oder internationales Recht zu verletzen. Besonders Greenpeace ist für seine Kampagnen der "demonstrativen Regelverletzung" bekannt geworden. Wie schon die Arbeiterbewegung durch gezielte und spontane Regelverstöße das Streikrecht erkämpft hat, setzt sich nun Greenpeace unter Berufung auf das "höhere Recht" für die Bewahrung der Existenzgrundlagen der Menschheit ein. Zwar hat der zivile Ungehorsam eine lange Tradition, die weit vor dem Eintritt von NGO's in die Geschichte begann und der die demokratische Bewegung viel zu verdanken hat, doch gilt bis heute entsprechend widerständiges Handeln als illegal.

Unter bestimmten Bedingungen können Aktionen des zivilen Ungehorsams jedoch Anspruch auf Legitimität geltend machen oder doch seitens der Rechtsprechung mit mildernden Umständen rechnen. Sie sollten ethisch-normativ begründet und auf die Vertretung allgemeiner und existenzieller Interessen gerichtet sein. Wichtig ist der Nachweis der Irreversibilität der durch die kritisierten Entscheidungen zu erwartenden Veränderungen. Die Möglichkeiten legaler Einflussnahme müssen erschöpft sein. Des weiteren sollten die Aktionen einen symbolischen Charakter haben, gewaltfrei und zeitlich befristet sein. Schließlich sollten aus den genannten Gründen die Konsequenzen des vorsätzlich begangenen Rechtsbruchs von den NGO-Aktivisten bewusst getragen werden.

Legitimation durch Vertrauen

NGO's erbringen gesellschaftlich relevante Leistungen, indem sie auf Probleme aufmerksam machen, auf deren Regelung drängen oder Druck auf die Verursacher ausüben. Sie bringen neue Themen auf die politische Tagesordnung, stellen alternative Informationen für Politiker und Bürger zur Verfügung und unterstützen innovative Politikansätze.

Gerade diese Leistungen und das spezifische Potenzial von NGO's an Unabhängigkeit, Risikobereitschaft, Flexibilität und Bürgernähe begründen ihr Gruppencharisma. Daraus wächst das Vertrauen der Bürger in ihr Engagement. Der Grad gesellschaftlicher Anerkennung und Unterstützung für NGO's, der ihre wichtigste Legitimationsgrundlage darstellt, kann unmittelbar an der Mitgliedschaft, aber auch an den Ergebnissen von Spenden, Briefkampagnen und Umfragen gemessen werden. Die Legitimität von NGO-Handeln ist insofern solange gegeben, wie es ihnen gelingt, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass ihr Bestehen notwendig ist.

räger einer neuen demokratischen Logik

Gerade diese dritte Dimension liberaler Legitimation wird zum Einfallstor für die neuen politischen Akteure in das Gebäude der liberalen Demokratie. Regierungen und Verwaltungen sind genötigt, sie zunehmend als Partner zu akzeptieren. Die Gründe dafür liegen in der sich immer stärker auffächernden thematischen Differenzierung politischer Entscheidungsmaterien und zugleich in der Partikularisierung von Interessenlagen. Weder Parteien mit ihren generalisierenden Programmen noch nationale Interessenverbände mit ihrem Monopolanspruch auf Interessenvertretung werden diesen neuen Herausforderungen noch gerecht.

Das gesamte Gebäude der repräsentativen Demokratie, einschließlich seiner legitimatorischen Statik, hat einen gründlichen Umbau nötig. Gefragt sind Verfahren, Normen und Funktionen, die eine demokratisch ausreichend legitimierte "Mitregierung" zivilgesellschaftlicher Akteure ermöglichen. Dies gilt ebenso für die nationale wie für die inter-/transnationale Ebene.

Es reicht nicht aus, wie es Dirk Messner vorschlägt, den NGO's - neben den drei "Säulen" der liberalen Gewaltenteilungslehre (Legislative, Exekutive, Judikative) und den Medien als vierter Säule - den Platz einer fünften Gewalt zuzuweisen. Der Versuch, auf diese Weise die postliberale demokratische Logik zivilgesellschaftlicher Akteure in das Institutionengefüge der parlamentarischen Demokratie zu integrieren, zielt zu kurz. Es bedarf eines institutionellen Entwurfs, der die Vermittlung zwischen der nationalstaatlichen Logik der parlamentarischen Demokratie und der fragmentierten, transnationalen Logik demokratischen Handelns zivilgesellschaftlicher Akteure gewährleistet.

Im Zuge der Globalisierung entstehen neue Formen binnenstaatlicher und grenzüberschreitender Politikverflechtung und Staatlichkeit ("Transstaatlichkeit"). Soll eine technokratische Elitenherrschaft und korporatistische Klüngelbildung jenseits der etablierten demokratischen Strukturen verhindert werden, muss ein neuer demokratischer Modus erfunden werden, der die Ausweitung der demokratischen Kontrolle auf die Ökonomie ermöglicht und die transnationale Handlungsebene mit der innerstaatlichen verschränkt. Ziel ist, die sich ausdifferenzierenden Gesellschaften demokratisch zu (re-) integrieren und transnationale Machtsysteme rechenschaftspflichtig zu machen.

Indem sie Umweltverbrechen und Menschenrechtsverletzungen öffentlich machen, Druck auf transnational agierende Unternehmen ausüben, lokale Gemeinschaften unterstützen und in gewaltträchtigen Konfliktsituationen vermitteln, schalten sich die NGO's in Politikprozesse auf trans-/internationaler Stufenleiter ein und beeinflussen auf diese Weise staatliche, intergouvernementale und wirtschaftliche Entscheidungen. Der ehemalige UNO-Generalsekretär Boutros Ghali bezeichnete die NGO's als "eine grundlegende Form menschennaher Repräsentation" und als "eine Garantie für die politische Legitimation auch der Vereinten Nationen".

Vision einer postliberalen Demokratie

Man kann sich eine postliberale demokratische Ordnung als eine Vielzahl sich überlappender territorialer und funktionaler Machtnetzwerke vorstellen, zu denen neben den Staaten auch lokale, regionale, transnationale und globale Zusammenhänge gehören. Funktionale, das heißt nicht nach dem Territorialprinzip strukturierte Machtarenen, sind beispielsweise ethnische Minderheiten, Religionsvereinigungen und Kirchen oder auch transnationale Unternehmen. Innerhalb der einzelnen Machtnetzwerke und Handlungsarenen konstituiert sich die Gesamtheit der beteiligten Bürger auch zu einer politischen Gesellschaft oder Gemeinschaft und begründet so einen besonderen Zusammenhalt, eine (Staats-)Bürgerschaft. Folglich wird der Besitz mehrerer (Staats-)Bürgerschaften, das heißt politischer Mitgliedschaften in verschiedenen politischen Handlungszusammenhängen, möglich. In diesen sowohl territorial als auch funktional bestimmten Gesellschaften oder Gemeinschaften formt sich ebenfalls eine je spezifische Wir-Identität als Grundlage gemeinsamen politischen Handelns und wechselseitiger Solidarität. Es entstehen unter unmittelbarer Beteiligung der (Staats-)Bürger pluralistische Institutionen und Verfahren des gemeinsamen Regierens aller beteiligten Akteure.

Damit sind die Rahmenbedingungen skizziert, unter denen eine belastbare demokratische Legitimation eines solchen postliberalen Gefüges zu gewährleisten wäre. Die breite Einbeziehung aller Interessen, darunter auch der zivilgesellschaftlichen Organisationen und der betroffenen Bürger, garantiert per se ein hohes Maß an Legitimität.

Das Netzwerkhandeln

Das entscheidende Kriterium für die rechtliche und ethische, also die normative Legitimation bildet die Gemeinwohldienlichkeit des Netzwerkhandelns. Weitere essenzielle Werte sind die nachhaltige Sicherung des Friedens und der ökologischen Überlebensfähigkeit der Menschheit, die Wiederherstellung beschädigter Solidaritäten, die Ersetzung von Gewalt als Konfliktaustragungsmittel durch friedliche Formen sowie die Öffnung eines gleichberechtigten Zugangs aller zu Produktiv- und Finanzvermögen. Als Untersetzung wäre eine angemessene Rechtsordnung zu entwerfen, die mit den übergreifenden (nationalen) und universalen Rechtsordnungen (Völkerrecht und Weltbürgerrecht) kompatibel ist.

Ein großes Problem ist fraglos der "Bedarf an verhandeltem Interessenausgleich zwischen den je für sich demokratisch verfassten funktionalen oder territorialen Sub-Systemen. Erst recht gilt das für transnational regelungsbedürftige Probleme. Sie können nur durch Verhandlungen geregelt werden" (Scharpf). Die Ergebnisse dieser Verhandlungen haben nicht dieselbe Qualität wie Entscheidungen, die durch Parlamentsbeschlüsse zustande kommen. Die einzelnen Sub-Systeme können nicht unabhängig von anderen involvierten Handlungseinheiten ihre Probleme lösen. Folglich ist keines der einzelnen Machtnetzwerke souverän, sondern jedes von der Zustimmung der anderen abhängig. Darin läge allerdings nur dann ein Verlust an demokratischer Selbstbestimmung, wenn das jeweilige Problem auch durch einseitige Entscheidung eines Netzwerkes hätte geregelt werden können.

Bereits heute sind Nichtregierungsorganisationen als Brücken- und Vermittlungsinstanz innerhalb und zwischen den verschiedenen Machtnetzwerken tätig. In dieser Funktion kommt ihnen zwangsläufig auch eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Gewährleistung friedlicher und produktiver Beziehungen zwischen den verschiedenen Sub-Systemen zu.



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