Suche nach dem Schnee von morgen

RISIKEN DER EU-OSTERWEITERUNG (2) »Ein Europa der 30« versetzt die »Europäische Gemeinschaft« von einst in einen schwer verdienten Ruhestand

Mit den in der Ausgabe vom 14. Juli veröffentlichten Betrachtungen des Kölner Sozialwissenschaftlers Lutz Schrader wurde vor allem die Hegemonie der EU-Staaten im jetzigen Stadium der Osterweiterung analysiert. Sie zwingt die pro-europäischen Eliten in den Kandidatenländern zu überzogenen Anpassungsleistungen, die für die dortigen Transformationsgesellschaften kaum oder nur schwer zu verkraften sind. Fazit des Autors: Der gesamte mittel- und osteuropäische Raum wird letztlich nicht gemessen an eigenen regionalen, kulturellen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Erfordernissen, sondern nach Interessen des EU-Pols »geordnet«. Die Gefahr dadurch ausgelöster nationaler/nationalistischer Strömungen - mit bedenklichen Konsequenzen für die Osterweiterung - liegt auf der Hand. Sie resultiert maßgeblich aus Asymmetrien auf der Akteurs-, der institutionellen und der politisch-inhaltlichen Ebene zwischen der EU und den Beitrittsstaaten.

Langsam wird den Eliten der EU-Staaten offenbar die Größe der Osterweiterung bewusst. Sie begreifen, dass es nicht mehr um die Aufnahme einzelner Mitgliedsstaaten mit mehrheitlich ähnlichem wirtschaftlichen und kulturellen Zuschnitt geht, sondern um die Zusammenführung zweier sehr unterschiedlicher Teilkontinente. Aus einem historischen Blickwinkel könnte man zugespitzt formulieren, die EU hat sich das titanische Ziel gesetzt, West- und Ost-Rom wieder zu vereinigen. Experten gehen bereits so weit, »das alte Europa« zu verabschieden. Und ein Staatsminister in Berlin warnt beschwörend: »Wir dürfen jetzt nicht wackeln«. Befürchtet wird, dass bei einem Nachgeben gegenüber immer drängender werdenden Forderungen der Beitrittskandidaten nach Konzessionen beim acquis communitaire das derzeitige power play der EU-Staaten in sich zusammenfällt.

Zum Druck aus den mittelosteuropäischen Staaten (MOE-Staaten) kommt der Widerstand einzelner EU-Mitglieder, die bei der Osterweiterung um ihre Pfründe fürchten. Ihnen gegenüber - so argumentiert Berlin - sei eine andere als die gegenwärtige Politik nicht durchsetzbar. Angesichts dieser wenig behaglichen Sandwich-Position gibt Außenminister Fischer die Losung »Integration oder Erosion« aus und will den stotternden deutsch-französischen Motor wieder auf Touren bringen.

Mitglieder nach Güteklassen sortiert

Unter dem Druck der Erweiterung werden die Verteilungskämpfe innerhalb der EU um knapper werdende Ressourcen für die Agrar- und Kohäsionspolitik immer offener ausgetragen. Gleiches gilt für Kontroversen um das Verhältnis von Union, Nationalstaaten und Regionen. Während die einen die internen Reformen vor Beginn der Osterweiterung vollenden wollen, befürchten die anderen eine gegenseitige Blockade der beiden großen Reformstränge und sind bemüht, gerade durch eine Beschleunigung der Osterweiterung inneren Reformdruck zu erhöhen.

Zu den Anhängern von Variante zwei gehört die Bundesregierung. Zwischen den Zeilen der »privaten« Berliner Rede von Minister Fischer lassen sich dazu Eckpunkte herauslesen: Die laufende Regierungskonferenz solle sich auf die Regelung der sogenannten Überbleibsel (»left over«) von Amsterdam beschränken, um so nach dem Niz za-Gipfel im Dezember den Weg für die erste Runde der Erweiterungsverhandlungen frei zu machen. Nach Aufnahme der ersten fünf leistungsfähigsten MOE-Länder wäre dann erst einmal für lange Zeit Schluss. Also Zeit gewinnen für einen späteren grundlegenden institutionellen Umbau der Union, heißt die Devise.

Konsequenz: Die weniger entwickelten, »problematischeren« Kandidaten - Bulgarien, Rumänien, Türkei - blieben erst einmal draußen. Dadurch würden besonders die beiden Balkanstaaten »bestraft«. Als ausgesprochen orthodoxe Länder sind sie nicht nur mit einigermaßen schlechten Ausgangspositionen in den gegenseitigen Überbietungswettbewerb der MOE-Kandidaten eingetreten, sondern wurden zusätzlich durch die Jugoslawien-Kriege und die westliche Sanktionspolitik in ihrer sozio-ökonomischen Entwicklung zurückgeworfen. Eine solche Entwicklung würde eine zusätzliche Fragmentierung des mittelosteuropäischen Raumes auslösen. Die Osterweiterung wäre also kein geographisch inklusiver Prozess mehr, der allen Staaten Europas offen steht, die dies wünschen und die bekannten Voraussetzungen erfüllen.

Innerhalb der »EU-alt« wird parallel dazu an einem institutionellen Arrangement gebastelt, das den großen und kleinen Gründungsmitgliedern der »EG-Sechs« weitgehend den Erhalt ihrer Hegemonie im Inneren und mehr weltpolitische Handlungsfähigkeit ermöglichen soll. Zu diesem Zweck wird die Neugründung der alten Sechser-Gemeinschaft als föderal verfasste Politische Union anvisiert. Die Folge hierbei wären Mitgliedschaften unterschiedlicher Qualität. Alt-Mitglieder und sonstige Bundesstaats-Befürworter hätten Anspruch auf ein Ticket erster Klasse. Für die mittelosteuropäischen Nettoempfänger bliebe eine Mitgliedschaft dritter Klasse.

Fazit: Der Union fehlt ein Konzept, das von der Gewissheit geprägt ist, die Perspektive von 20 bis 30 Mitgliedern sei jenseits der überkommenen, einst für die Sechser-Gemeinschaft erdachten Integrationslogik zu suchen. Gebraucht wird der Entwurf einer zeitgemäßen Architektur - gebraucht wird ein Paradigmenwechsel hin zu einem gesamteuropäischen institutionellen sowie politischen Selbstverständnis und Design. Doch dieser Wechsel lässt sich nicht in einem Quantensprung bewältigen. Das belegt nicht zuletzt die Zähigkeit der Regierungsverhandlungen zum Vertrag von Nizza.

Ohne steuerndes Zentrum auskommen

Das sowohl im Westen wie auch im Osten des Kontinents strapazierte Europa-Leitbild hat in den vergangenen Jahren fast jegliche Kontur verloren. Es ist daher an der Zeit, sich endgültig von der Finalität eines europäischen Bundesstaates zu verabschieden und zu einer tiefgreifend veränderten Integrationslogik überzugehen. Die Mentoren der europäischen Einigung werden sich auf ein zugleich offenes, polyzentrisches und auf mehreren Ebenen angelegtes Institutionen-Design einstellen müssen. Die Entstehung netzwerkähnlich verknüpfter, einander überlappender Politik- und Machtarenen mit mehreren Integrationskernen zwingt dazu, von der Idee eines steuernden Zentrums Abschied zu nehmen.

Das bedeutet zugleich, realitätsferne Erwartungen hinsichtlich der Einführung von Mehrheitsbeschlüssen innerhalb der EU aufzugeben. Denn Mehrheitsbeschlüsse sind nur dann legitim, wenn zwischen den Unterlegenen eine elementare Gemeinsamkeit besteht, die ein Überstimmtwerden erträglich macht. Da auf lange Sicht im institutionellen »Patch work« EU-Staaten die zentralen Agenturen der Willensbildung und mithin die »Herren der Verträge« bleiben werden, sind diese gezwungen, Abstimmungsprozeduren zu entwickeln, die bei zunehmender Heterogenität einen tragfähigen Konsens erlauben.

In einem solchen entwicklungsoffenen Gefüge der Institutionen wäre auch Platz für die Neumitglieder aus Osteuropa. Es ginge um die Verknüpfung zwischen einer reformierten »EU-alt« und einem an Dichte gewinnenden wirtschaftlichen wie politischen Zusammenschluss der MOE-Staaten.

Eine solche Tandem-Konstruktion würde den Reformstaaten genug Spielraum lassen, um ihre Entwicklungspotenziale und eine authentische Integrations- und Kooperationslogik zu entfalten. Um so selbstverständlicher würden die gesamteuropäischen Bande. Gelänge es den EU-Mitglieder, sich auf ein derart polyzentrisches Mehr-Ebenen-Europa mit variablen Integrationsgeschwindigkeiten und -geometrien zu verständigen, wäre der wichtigste Schritt hin zur Re-Konstruktion einer EU-europäischen Identität getan.

Erste Ansätze der Vermittlung von nationaler, regionaler und EU-europäischer Identität haben Eingang in den Amsterdamer Vertrag gefunden. Die Stärkung von Interessen der Mitgliedsstaaten und Regionen gegenüber der Union wurde auf zwei Wegen erreicht: durch den Einbau von »Transferbremsen« (etwa punktueller Ausschluss der Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften und länderbezogene Opting-out-Klauseln) und durch den Erhalt des Subsidiaritätsprinzips (*). Auf eine klarere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der regionalen, nationalstaatlichen und Unionsebenen konnten sich die Vertragspartner jedoch (noch?) nicht einigen.

Zusehends mehr Politikern scheint klar zu werden, dass eine technokratische, demokratisch defizitäre und mit anderen Identitätskreisen (national, regional) konkurrierende EU letztlich auf unüberwindliche Schwierigkeiten trifft, eine eigene, positiv besetzte Identität auszuprägen. Mit einer Identitätspolitik, die tatsächliche Entwicklungen der (west-)europäischen Integration wach und kreativ zur Kenntnis nimmt, wüchsen dagegen die Chancen, Loyalität und Unterstützung der EU-Bürger für den Fortgang der Integration zu mobilisieren.

Bezogen auf die Osterweiterung, hieße das, eine Politik zu entwerfen, die eine Ungleichzeitigkeit zwischen West- und Osteuropa auf dem Gebiet der Staatsentwicklung (nation building) respektiert und nach Vermittlungen zwischen (West-)Europa-Orientierung und »weichem Nationalismus« Ausschau hält. Eine solche mehrstufige Identität sollte nicht nur die Werte des europäisch-westlichen Liberalismus, sondern auch den »Gründungsmythos« der Umschwünge von 1989/90 integrieren.

(*) Diese Prinzip besagt, dass die Entscheidungen in einem politischen System soweit wie möglich auf den unteren Ebenen getroffen werden sollen. Die Gemeinschaft soll nur tätig werden, wenn ein Ziel auf europäischer Ebene besser erreicht werden kann als auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene.

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