Vor 15 Jahren, am 11. Juli 2004, ließ uns Lothar Baier zurück. In Montreal, seinem kanadischen Exil, wo er seine letzten Lebensjahre verbrachte, nahm er sich, 62 Jahre alt, das Leben. Er ist nie angekommen, wo auch? Ein Makel ist das nicht, eher eine Auszeichnung.
Er war ein Mann der leisen Töne, schmal, unter dem Schnurrbart oft eine glimmende Zigarette, viel dunkles Haar, im Gespräch warf er mir ab und an ein spitzbübisches Lächeln zu. Auf den ersten Blick traute man ihm das Werk, das er in seinem Leben hervorgebracht hat, gar nicht zu. In einem an mich, den damaligen RAF-Gefangenen, adressierten und im Freitag und in der Schweizer Wochenzeitung WOZ wiedergegebenen Offenen Brief vom 13. November 1992 spricht er von seinem Dasein als einem „unauffälligen Literatenleben“. Indes war er ein bekannter Intellektueller, ganz besonders in Frankreich. Er schrieb für Zeitungen und Zeitschriften, von taz bis FAZ, und natürlich für den Freitag. Zeitweise war er auch Redakteur bei der WOZ, und für die taz berichtete er 1987 täglich vom Prozess gegen den Schlächter von Lyon, Klaus Barbie. Er übersetzte Sartre, Jules Verne, André Breton, Paul Nizan. Er schrieb eine lange Reihe zeitkritischer Essays, verfasste Bücher, nicht zuletzt die Erzählung Jahresfrist (1985), in der es um einen deutschen Intellektuellen im südfranzösischen Ardèchetal geht, autobiografische Züge sind unschwer zu erkennen. Das Werk, das er zeitlebens verfertigte, aber nie abschloss, war im Grunde genommen er selbst. Er wird mir immer ein sehr sympathisches, herausforderndes Rätsel bleiben. Für mich steht er für den Blick ins Offene. Aus welchen Quellen floss diesem Menschen der leisen Töne die Kraft zu, sich ein Leben lang treu zu bleiben?
„Ich war nie 68er“
Zum ersten Mal wurde ich auf Lothar in unserer Pfadfindergruppe aufmerksam, und zwar bei einem Ringkampf. Es handelte sich um eine unorganisierte Gruppe, freie Pfadfinder hieß das. Mitte der 50er Jahre in Westdeutschland war das Übereinanderherfallen noch nicht so lange her und schon gar nicht negativ beleumundet, und so ordnete der Gruppenleiter an, wir sollten gegeneinander kämpfen. Selbst nach etlichen Jahrzehnten steht mir die Szene noch immer lebendig vor Augen. Wie befohlen, rangen wir miteinander, Lothar gab sich Mühe, zeigte einen eckigen Eifer, aber irgendwie stand er neben sich. So etwas war einfach nicht sein Ding. Okay, sagte ich mir, vielleicht kann er mein Freund werden.
Wir durchliefen dieselbe Schule, der Lehrer beendete jede Stunde mit „Schluss, aus, Genickschuss!“. Jahrzehnte später schrieb mir Lothar, dass ein Karlsruher Oberschulamtsleiter, Knittel, damals zuständig für unsere Schule, der in Auschwitz für Truppenbetreuung und weltanschauliche Schulung zuständige Abteilungsleiter gewesen war. In einem solchen Deutschland konnten wir nicht Anker werfen. Beide ahnten wir das schon lange, wir fühlten uns fremd im eigenen Land. Der Mord an Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 war schließlich die einschneidende Zäsur, die uns – und viele andere – aus unserem Unbehaustsein in die 68er-Revolte katapultierte.
Es sollte fast 20 Jahre dauern, bis wir wieder Kontakt haben würden, wenn auch nur Blickkontakt. Ich saß als Mittäter des Kommandos Holger Meins, das im April 1975 versucht hatte, RAF-Gefangene aus dem Knast zu befreien, was vier Menschen das Leben kostete, im Düsseldorfer Oberlandesgericht auf der Anklagebank, Lothar auf den Zuschauerbänken. Welche Überraschung! Ein zurückhaltendes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Ich nickte. Mehr war da nicht. „Sympathisant“ war er nicht. Aber er bemühte sich um aufrechten Gang, Trennendes lag zwischen uns, aber auch Gemeinsames. Diesem Verbindenden galt Lothars gewissenhafte Aufmerksamkeit.
Karl Heinz Dellwo, Knut Folkerts und ich wurden nach 17 Jahren aus der Isolationshaft in Celle entlassen, wenn auch nicht in Freiheit, so doch in den Normalvollzug. Wir hatten Kontakt zu anderen Häftlingen und mussten uns erst wieder in eine soziale Normalität einfinden. Fühlen und Denken kehrten zu längst vergessener Agilität zurück. Wie im Rausch schrieb ich einen Beitrag zu dem 1992 erschienenen Sammelband Odranoel – die Linke zwischen den Welten. Es gab Beiträge aus Uruguay, Brasilien, den USA und der BRD. Fast alle Autoren hatten eine militante linke Geschichte und Knasterfahrungen. Im dem oben genannten Offenen Brief an mich knüpft Lothar an meinen Beitrag Gedanken gegen die Mauern an, „der förmlich danach ruft, weiter bekannt gemacht zu werden“.
Sein Brief ist ein Appell zur Freilassung von RAF-Gefangenen, ihm ist Kritik eingeschrieben, auch Selbstkritik und Zustimmendes, aber alles im aufrechtem Gang, ohne sich zu verbiegen. Besonders hebt Lothar aus meinem Buchbeitrag die folgende Passage hervor: „Widerstand ist nicht revolutionär, denn er führt der Bewegung, der Gesellschaft nicht jenes Positive zu, dessen Möglichkeit er mit seiner radikalen Kritik am Bestehenden behauptet. Die Zeit der revolutionären Zielsetzungen, die den Alltagsbeweis nicht mehr antreten können, ist vorbei.“ Er lag schon lange über Kreuz mit dem, was „die Linke“ in der Ära der rot-grünen Spaßgesellschaft und der Agenda 2010 werden sollte, die für viele Menschen alles andere als spaßig war. Ich selbst sollte hungernde Kinder, für die es hierzulande inzwischen Kindertafeln gibt, später auch in brasilianischen Favelas erleben, wo ich dazu beitrug, alltagstaugliche, solidarökonomische Strukturen aufzubauen.
Als ich Lothar nach meiner Entlassung 1995 traf und im Gespräch zu ihm sagte: „Du als 68er ...“, unterbrach er mich: „Ich war nie 68er, ich war nie organisiert.“ Sprach er vom Missverhältnis von Kollektivem und Individuellem, von der damals bisweilen leichtfertig praktizierten Unterordnung unter das Kollektiv, auch ein Erbe von 68?
Meine Erinnerung an die Gefängniszeit ist manchmal lückenhaft. Ich erinnere mich aber an Lothars Besuch im Rahmen des Projekts Power durch die Mauer. Zwei Frauen, fünf Männer, von Antifa bis Grüne, hatten durchgesetzt, dass sie uns drei in den letzten Knastjahren gemeinsam besuchen und gelegentlich auch einen Gast mitbringen konnten. Einer davon war Lothar. Wir saßen um einen großen runden Tisch, acht oder zehn Leute. Ich erinnere mich nicht, worüber wir sprachen. In seinen Texten, die er uns hinterließ, arbeitete er an Themen wie die verleugnete Utopie, Fremdenhass, Antirassismus, Antiintellektualismus, alles erstaunlich aktuell.
Lothar lebte, studierte, arbeitete in Deutschland, England, in den USA, in Kanada, vor allem aber in Frankreich. Aber dennoch können wir in ihm keinen Pionier jener kosmopolitischen, akademisch gebildeten, gut verdienenden Mittelklasse sehen, die hierzulande derzeit ziemlich im Kommen ist und die es sich inzwischen nicht mehr nehmen lässt, das Prekariat und seine Probleme zu bemerken.
Ich besuchte Lothar 1997 in seiner Frankfurter Wohnung, klein, etwas heruntergekommen, aber mit der Besonderheit, dass Wände nicht zu sehen waren. Niemals hatte ich mich in Räumen aufgehalten, in denen ich mich von Bücherregalen eingekreist sah. Bücher, vom Boden bis zur Decke, vom Fenster bis zur Tür. Auch auf dem dunklen Flur. Er freute sich über meinen Besuch, zeigte gute Laune, sprach von Ginette, seiner kanadischen Liebe, indes beschlich mich das Gefühl, dass er nicht mehr zu Hause war in der Welt, in der er Jahrzehnte gelebt, gesucht, gestritten und gehofft hatte. Er schien mir einer großen Enttäuschung verhaftet. Mit dem Fall der Mauer war nicht nur das realsozialistische Imperium zum Teufel gegangen, sondern auch die Suche nach einem Weg ins Offene. An die Stelle von realsozialistisch verhunzter Utopie trat ein anderer Alleinvertretungsanspruch: die Alternativlosigkeit des Marktes. „Menschliches Werden und Wechselwirkungen brauchen Zeit. Nur wenn die Zeitstrände sich weit genug hinziehen, kann sich auf ihnen vielerlei ablagern und kann sich das Abgelagerte unter unvorhersehbaren Einflüssen in etwas Neues und anderes verwandeln. In eine Kultur zum Beispiel, die es in dieser Form bis dahin nicht gegeben hat“, schrieb er in seinen 1995 erschienenen Ostwestpassagen.
Zu Beginn der nuller Jahre, als ich schon einige Zeit in Favelas im Großraum Rio de Janeiro arbeitete, fragte er mich in einer Mail, ob ich ihm raten würde, nach Montreal überzusiedeln. Ich hätte doch mit solcher Übersiedelung schon so meine Erfahrung. Ich empfahl ihm diesen Weg ohne Wenn und Aber.
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