Für so manchen dürfte es verblüffend klingen: Die internationale Sprache Esperanto verbreitet sich zusehends. Auch wenn sich die Gegner des Esperanto noch so große Mühe gegeben haben - das Wachstum der Esperanto-Sprachgemeinschaft ist offensichtlich nicht aufzuhalten und mittlerweile wohl kaum noch zu übersehen, wenn man sich ein wenig mit dem Thema vertraut macht.
Vielleicht sind die Zahlen der Esperanto-Lerner bei Duolingo.com am deutlichsten. Dort haben sich für den englischsprachigen Kurs bisher 769.000 Personen eingetragen, http://duolingo.com/courses/en . Der spanischsprachige Kurs ist erst ein paar Monate alt, http://duolingo.com/courses/es ; dort haben sich 70.200 Lerner eingetragen. Monatlich schließen derzeit etwa 3000 Personen einen der Kurse ab; pro Jahr dürften das also 35.000 Leute sein. Das ist ein guter Zuwachs für Esperanto (auf einer einzigen Website), denn man schätzt, dass bisher nur ein paar hunderttausend Menschen Esperanto regelmäßig sprechen, ein paar Millionen es gelernt haben und es etwa tausend Esperanto-Muttersprachler gibt.
100. Todestag von Ludwik Zamenhof:
14. April 2017
1887 hatte der damals 27-jährige Ludwik Zamenhof in Warschau ein kleines Büchlein mit den Grundlagen einer neuen "Internationalen Sprache" veröffentlicht. Die Sprache wurde bald "Esperanto" genannt, nach dem Pseudonym des Autors. Am 14. April 1917 ist Zamenhof gestorben, in diesem Jahr wird sein 100. Todestag sein und die Esperanto-Sprecher werden ihn und seine Sprache ehren.
Relativ rasch zu lernen
Esperanto hat nur wenige Regeln, es setzt sich aus Wörtern zusammen, die möglichst in vielen Sprachen zu finden sind, und man kann nach bestimmten Regeln neue Wörter bilden. Das zusammen sorgt dafür, dass Esperanto in einem Drittel bis einem Fünftel der Zeit zu erlernen ist, die wir z.B. für Englisch oder Italienisch brauchen. Ich schreibe, du schreibst, er schreibt heißt in Esperanto mi skribas, vi skribas, li skribas. Ich schrieb - mi skribis. Und genauso: Ich lese, du liest - mi legas, vi legas. Ich las - mi legis. Skribanto ist jemand der schreibt, ein Schreiber; leganto ist ein Leser. Man kann skribema sein, wenn man eine Neigung zum Schreiben hat oder legema, wenn man gerne liest. Usw.
Und das ist auch schon die erste Antwort auf die Frage, warum sich Esperanto zunehmend verbreitet: Es ist rasch zu lernen. Man braucht nicht so ewig, bis man ein vernünftiges Niveau erreicht hat. Das ist einfach sehr angenehm. Nicht so wie im Englischen, wo man sich noch nach Jahrzehnten fragt, wie mache Wörter wohl ausgesprochen werden. Oder ob man wirklich so schreiben darf, wie es nach Logik richtig wäre... Viele Esperanto-Sprecher beherrschen Esperanto daher deutlich besser als ihre anderen Fremdsprachen.
Weltweite Kontakte
Die zweite Antwort lautet: Man kann durchaus eine Menge mit Esperanto machen, vor allem Kontakt mit Menschen aus Dutzenden von Ländern pflegen. Ein Freund von mir macht gerade in Nepal eine Himalaya-Wanderung - mit einer Esperanto-Gruppe. Ein anderer hat Kontakt zum Bürgermeister eines Dorfes in Tanzania, der Esperanto spricht; die dortigen Entwicklungsprojekte werden von Esperanto-Sprechern unterstützt. (Man kann, diese Erkenntnis hat sich allgemein noch nicht so verbreitet, Entwicklungshilfe auch in kleinem Organisationsrahmen und in Absprache mit den Einheimischen durchführen...)
Die meisten Esperanto-Sprecher bleiben etwas bescheidener in Europa und nehmen hier an internationalen Esperanto-Treffen teil. Da lernt man dann viele Leute aus anderen Ländern kennen und einige mag man dann auch - und wenn es nett war, dann kommt man wieder und vielleicht besucht man die Leute irgendwann mal.
An dieser Stelle hört man dann gelegentlich, Esperanto solle doch mehr sein als nur eine nette Freizeitbeschäftigung für eine im Vergleich zur Weltbevölkerung geringe Gruppe. Gemeinsame Weltsprache für möglichst viele Menschen. Ja, das wäre sicher schön. Aber der Weg zu einer Sprachgemeinschaft von ein paar hundert Millionen Menschen führt nun mal über die Zahlen von ein paar hunderttausend oder ein paar Millionen. Anders als durch stetes Wachstum ist ein solches fernes Ziel nicht erreichbar. Dass man auf die Hilfe der Politiker nicht zu sehr hoffen darf für ein solches Projekt, darauf hat Zamenhof schon 1910 hingewiesen; Politiker kommen in vielen Fällen erst, wenn alles schon fertig ist, meinte er...
Insofern ist die heutige Sprachgemeinschaft eine notwendige Vorstufe für eine mögliche weitere Entwicklung. Für die Esperanto-Sprecher von heute ist es allerdings weitaus mehr: Sprach- und Kulturgemeinschaft, in der sie sich recht wohlfühlen. Und ob die anderen auch Esperanto lernen wollen - das sollen die doch entscheiden. Selbst dran schuld, wenn sie sich das entgehen lassen.
Für manche Leute, das gebe ich ja gerne zu, bietet Esperanto heute auch keine besonderen Vorteile. Wenn man nicht so sehr am Herumreisen oder an Menschen aus anderen Ländern interessiert ist oder wenn einfach die Freizeit schon gut angefüllt ist, dann erfüllt Esperanto ein Bedürfnis, das man selbst nicht hat. Die meisten Esperanto-Sprecher haben Esperanto wohl gelernt, als sie gerade Single waren; da hat man eine Menge Zeit zur Verfügung... Esperanto lässt sich natürlich auch fortführen, wenn man zu zweit ist oder Kinder hat, insbesondere, weil die heutigen Esperanto-Treffen das weit mehr unterstützen als die Kongresse früherer Zeiten.
Zunehmende Verbreitung
Vielleicht noch ein paar Zahlen: In Ungarn haben seit 2001 über 35.000 Menschen eine staatliche anerkannte Esperanto-Prüfung abgelegt. Auf den Seiten des ungarischen Sprach-Zertifizierungs-Instituts NYAK http://www.nyak.hu/doc/statisztika.asp?strId=_43_ kann man nachlesen, dass sich dort in den letzten zehn Jahren über 40.000 Personen für eine Esperanto-Prüfung angemeldet haben (sie bestehen nicht alle...). Das ist übrigens etwa so viel wie für Französisch und der dritte Platz nach Englisch und Deutsch.
Die ungarische Volkszählung berichtet, dass 1990 etwa 2083 Esperanto-Sprecher gezählt wurden, 2011 waren es vier Mal so viel, 8397, http://www.ksh.hu/nepszamlalas/docs/tables/regional/00/00_1_1_4_2_en.xls . Das hätte man in Deutschland vielleicht wahrnehmen können - aber was ist schon ein ungarisches Prüfungsinstitut gegen eine Sprachlernseite aus den USA wie Duolingo.com?! Am englischen Wesen soll die Welt genesen, das wissen wir doch. Und außerdem "wissen" viele, dass "niemand" Esperanto spricht; deshalb sind beide Informationen nicht so wichtig und am liebsten werden sie ein wenig angezweifelt. Was nicht zur eigenen Weltsicht passt, das wird am liebsten ignoriert oder weggewischt, das tun wir alle liebend gern.
Esperanto-Kultur
Zamenhof war es von Anfang an wichtig, aus Esperanto eine Kultursprache zu machen. So hat er in seiner Sprache Gedichte geschrieben und einige Werke übersetzt: Schillers Räuber, Hamlet, Andersens Märchen und das Alte Testament. Bald haben auch andere ins Esperanto übersetzt und dann auch in Esperanto geschrieben. Geoffrey H. Sutton hat vor ein paar Jahren eine "Concise Encyclopedia of the Original Literature of Esperanto" zusammengestellt, in der er etwa 300 Autoren von originaler Esperanto-Literatur vorgestellt hat. insgesamt sind bisher etwa 10.000 Esperanto-Bücher erschienen, jährlich kommen etwa 120 neue hinzu.
In den letzten Jahrzehnten hat sich eine recht vielseitige Musikszene in Esperanto gebildet, die so ziemlich alle Stile umfasst. Reggae und Hiphop, Rock und Pop, Schlager und Chansons kann man mittlerweile bei youtube finden (Suche: Esperanto + "muziko").
Offizielle Anerkennung und Unterstützung
Esperanto erfährt auch mehr und mehr Verwendung und offizielle Anerkennung. Die chinesische Regierung veröffentlicht seit etwa 2001 täglich Nachrichten in Esperanto http://esperanto.china.org.cn . Der Boom in Ungarn rührt daher, dass die Ungarische Wissenschaftliche Akademie Esperanto 2004 als lebende Fremdsprache bestätigt hat; damit ist Esperanto (im wesentlichen) gleichberechtigt mit anderen Sprachen. Für ein Studium muss man in Ungarn Fremdsprachenkenntnisse nachweisen - Esperanto bietet eine einfache Variante, das zu erfüllen. In Brasilien wurde das fakultative Angebot von Esperanto an Schulen in den beiden Kammern des Parlaments diskutiert und das zuständige Ministerium soll sich nun der Sache annehmen. In Burundi hat eine Bildungsorganisation mit dem Staat einen Vertrag über das Angebot von Esperanto an Schulen geschlossen. In Polen wurde Esperanto 2014 in die nationale Liste des immateriellen kulturellen Erbes aufgenommen.
Das Esperanto-PEN-Zentrum ist seit 1993 Mitglied bei PEN International. Die katholische Kirche hat Esperanto 1990 als liturgische Sprache anerkannt, indem die Esperanto-Messtexte genehmigt wurden.
Auch auf Internet-Seiten und bei Anbietern von Programmen wird Esperanto zunehmend verwendet. Bei Google Translate wird seit 2o12 auch Esperanto übersetzt. Die Esperanto-Wikipedia hat über 230.000 Artikel; das ist etwas mehr als etwa die dänische, die slowakische oder die hebräische Version. Es gibt auch eine Esperanto-Übersetzung der gesamten englischsprachigen Wikipedia, WikiTrans, etwa 5 Millionen Artikel; die sind ganz gut lesbar, dank der regelmäßigen Struktur des Esperanto. Bei Facebook gibt es eine Esperanto-Version, ebenso für Linux.
Das alles hat im wesentlichen einen gemeinsamen Grund: Es gibt einfach eine Menge von Esperanto-Sprechern, die auch im Internet was in Esperanto schreiben. So gibt es eine große Anzahl von Seiten auf Esperanto und wenn man was auf oder für Esperanto anbietet, dann wird das halt auch ein wenig genutzt - etwa so wie Angebote in kleineren Sprachen wie Litauisch oder Slowenisch oder Baskisch... Wenn eine Seite oder ein Angebot international wird und so bei zwanzig oder dreißig Sprachen angelangt ist, dann ist Esperanto heutzutage ein natürlicher Kandidat; es kommt natürlich auf den Bereich an.
Populäre Irrtümer über Esperanto
Bemerkenswert ist, dass sich die öffentliche Wahrnehmung des Esperanto nur sehr langsam ändert. Ich habe den Eindruck, dass es in den Wissenschaften einen Echoraum zu Esperanto gibt, in dem man sich gegenseitig erzählt, dass es keine Esperanto-Sprachgemeinschaft gäbe. Elfenbeinturm in Reinkultur.
In einem Werk zur Geschichte des 19. Jahrhunderts kann man in den Auflagen von 2009 bis 2016 lesen, ein "lebensfähiges Medium" sei aus dem Esperanto nicht geworden. Dahinter findet sich eine Quellenangabe, die das aber keinesfalls bestätigt; sie bezieht sich auf etwas ganz anderes, einen Satz weiter vorne (Jürgen Osterhammel. Die Verwandlung der Welt: eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München (Beck). 2011. S. 732). Ich habe nachgefragt, woher die Information stammt. Da wurde mir nur mitgeteilt, die gesamte Passage über Esperanto (die auch einiges an richtiger Information enthält) solle in der nächsten Auflage gestrichen werden; es sei Kritik geäußert worden, zum Teil "aggressive" (vermutlich vor allem zu der weiteren, nicht gerade sanften und ebenso unbelegten Behauptung, "aus dem Sektierertum" hätten "diese Sprachglobalisten" nicht hinausgefunden).
Ich muss zugeben, so ganz hat mir der Vorgang nicht eingeleuchtet. Wenn sich herausstellt, dass in Wahrheit Esperanto sehr wohl lebensfähig geworden ist und dass sich tatsächlich eine weltweite lebhafte Sprach- und Kulturgemeinschaft gebildet hat, dann soll die Erwähnung nun vollständig gestrichen werden. Und das deshalb, weil einige Leser die Ausdrucksweise und die inhaltlichen Fehler kritisiert haben, ja? Natürlich soll Wissenschaft frei sein - aber soll sie auch frei sein von Realitätsbezug?
Jürgen Osterhammel ist leider nicht der einzige Wissenschaftler, der irrige Aussagen zu Esperanto verbreitet hat. Oft findet man die Annahme, niemand spreche Esperanto oder zumindest nicht ausreichend viele, so dass sich eine vollständige Sprache bilden kann. Dass es mittlerweile etwa tausend Esperanto-Muttersprachler gibt (von denen sich viele auch bei Esperanto-Familientreffen begegnen), das scheint zum Beispiel in den Wissenschaften kaum angekommen zu sein. (Falls es doch bei jemandem angekommen ist, werden manchmal die Kinder bedauert. Ich kenne viele dieser Kinder, u. a. spricht meine eigene Tochter Esperanto; sie ist damit recht glücklich.)
Auch der Anglistik-Professor Anatol Stefanowitsch hat seine Liebe zu Esperanto offensichtlich noch nicht gefunden. Er schrieb vor ein paar Jahren über das "leidige, nicht tot zu kriegende Esperanto". Als er deshalb kritisiert wurde, erläuterte er, „leidig und nicht totzukriegen“ sei nach seiner Auffassung die Idee, das Esperanto sei in irgendeiner Weise besonders gut dazu geeignet, die Rolle einer Weltsprache zu übernehmen. Ich sehe das zwar anders, aber für mich ist ohnehin die heutige Esperanto-Sprachpraxis der entscheidende Punkt. Ich möchte sachliche und korrekte Information, damit sich die Leute selbst entscheiden können, ob sie Esperanto lernen und sprechen mögen. Und bei "nicht totzukriegen" werde ich unangenehm daran erinnert, dass unter Stalin Esperanto-Sprecher erschossen wurden oder in Lager verfrachtet.
Nur mit Skepsis sehe ich den neuen Sport der Esperanto-Gegner, irgendwelche unbasierten Vermutungen über zwei wichtige Argumente für Esperanto zu streuen, die (relative) Neutralität und die rasche Erlernbarkeit: Es sei ja gar nicht so neutral - und man wisse nicht, ob es nicht vielleicht irgendeines fernen Tages komplizierter werde. Zur Neutralität ist zu sagen, dasss Esperanto ganz sicher weit neutraler ist als jede andere Sprache. Man braucht sich nur anzuschauen, wer die englische Wikipedia schreibt - zu über 90 % Leute aus den Ländern USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland. Die Esperanto-Wikipedia wird hingegen von Nutzern aus Dutzenden von Ländern erstellt wird, da hat keine nationale oder sprachliche Gruppe eine Übermacht.
Was die Leichtigkeit anbetrifft, so wäre es vielleicht sinnvoll, zunächst die Erfahrungen aus den ersten 130 Jahren Esperanto auszuwerten, bevor man fröhlich vor sich hin spekuliert. Dann ließe sich feststellen, dass Esperanto sehr wohl seine vergleichsweise leichte Erlernbarkeit bewahrt hat: Ein Handy ist ein poŝtelefono (poschtelefóno), ein "Taschentelefon"; wer weiß, was poŝo und was telefono heißt, der versteht das. Das Wort "Handy" versteht ein Ausländer hingegen nicht unmittelbar. Auch der Philosoph und Ökonom Philippe Van Parijs sollte vielleicht erwägen, seine Vorstellungen und Überlegungen zu Esperanto anhand der beobachtbaren Wirklichkeit und mit Hilfe der vorliegenden sprachwissenschaftlichen Literatur zu überprüfen (vgl. den Abschnitt zu Esperanto in seinem Buch "Sprachengerechtigkeit - für Europa und die Welt").
Vielleicht noch kurz zurück zu Stefanowitsch. Der behauptet zum Abschluss seines zweiten Blog-Eintrags zu Esperanto, dessen künstliche „Einfachheit“ sorge dafür, dass Esperanto für die Sprachwissenschaft "ungefähr so interessant sei, wie ein Zementgarten für die Ökologie" ("Will heißen: Weitgehend uninteressant, außer vielleicht dort, wo die Natur in die künstliche Ordnung eindringt.") Man hat den Eindruck, von den jährlich weit über hundert sprachwissenschaftlichen Aufsätzen zu Esperanto hat Stefanowitsch bisher noch nicht Kenntnis genommen. Eine solche Vorgehensweise ist nach meinem Eindruck allerdings auch ganz generell die Grundlage für leidenschaftliche Kritik des Esperanto; mein Vater sagte gerne mit einem verschmitzten Lächeln, "je weniger man von einer Sache versteht, desto unbefangener kann man über sie urteilen".
Von der Wissenschaft in die Medien
Nach allgemeiner Auffassung sind die Wissenschaftler die Träger des Wissens - und in der Regel ist das ja auch völlig richtig. Allerdings, wie wir hier mal wieder bestätigt sehen: Die persönlichen Gesichtspunkte werden manchmal als die sachlichsten dargestellt...
Wenn eine Journalistin einen Artikel zu Esperanto schreibt, dann wird bei der Recherche natürlich gerne mal in der Sprachwissenschaft nachgefragt. Früher traf es dabei oft einen Professor, von dem die anderen annahmen, er sei insofern der kompetenteste - auch wenn der betreffende keinen einzigen Artikel zu Esperanto veröffentlicht hatte.
In neuerer Zeit spricht es sich erfreulicherweise auch unter Journalisten herum, dass z. B. Sabine Fiedler aus Leipzig nicht nur Professorin für Anglistik ist, sondern auch mehr als zwei Dutzend Artikel zu Esperanto veröffentlicht hat. Es gibt auch ein paar andere Wissenschaftler in Deutschland, die zu Esperanto forschen, und es gibt eine "Gesellschaft für Interlinguistik" (also für die Wissenschaft von den internationalen Sprachen), die Jahrestagungen durchführt und Publikationen herausgibt. Das ist wirklich ein Segen.
Die früheren unzureichenden Recherche-Ergebnisse finden sich teilweise leider noch im Internet (und noch viel mehr in den Köpfen mancher Leser). Auf den Seiten der Neuen Zürcher Zeitung, nzz.ch, kann man z. B. immer noch die überraschende Aussage aus dem Jahr 1994 lesen, Kunstsprachen wie Esperanto böten „keine Kinderlieder und keine Verse an, keine Flüche, keine Witze, keine Redensarten“. Das alles ist vollständiger Unsinn (und der ganze Artikel birgt noch mehr davon).
Schon im ersten Esperanto-Lehrbuch von 1887 wurden drei Gedichte in Esperanto veröffentlicht; Zamenhof wollte sehr wohl eine Kultursprache auf den Weg bringen. Auch Kinderlieder und Redensarten, Witze und Flüche gibt es natürlich in Esperanto. Schon der Titel "Nachruf aufs Esperanto" führt den Leser in die Irre; der Autor, Wolf Schneider, und vermutlich auch sein Informant haben wohl nicht so recht gesehen, dass Esperanto nicht nur ein Vorschlag einer internationalen Sprache ist, sondern eine Sprachgemeinschaft gebildet hat.
Korrektur von Irrtümern
Die falschen Informationen über Esperanto haben die Verbreitung der Sprache wohl erheblich gebremst. Insbesondere die Vorstellung, Esperanto sei lediglich ein Projekt für eine allgemeine Weltsprache, hat sicherlich viele Leute davon abgehalten, Esperanto zu lernen. Man muss schon wissen, dass es eine weltweite Sprachgemeinschaft gibt, um einen Nutzen im Erlernen des Esperanto zu sehen. Und man sollte es wissen, wenn man z. B. Sprachwissenschaftler, Journalist oder Lehrer ist, um einen Sinn darin zu sehen, den Studenten, Lesern oder Schülern etwas über Esperanto mitzuteilen.
Es wäre schön, wenn diejenigen, die falsche Informationen zu Esperanto verbreitet haben, sich zumindest darum bemühen würden, nunmehr richtig zu informieren. Schön, aber leider oft eine Illusion. Zeitungen sind laut Pressekodex verpflichtet, falsche Informationen "unverzüglich von sich aus in angemessener Weise richtig zu stellen." Als angemessen wird dabei anscheinend empfunden, wenn ein Leserbrief abgedruckt wird oder wenn später ein anderer Artikel die Sache richtig darstellt. Besser als nichts; bei NZZ Folio wurde kein Leserbrief abgedruckt, die Kommentare im Internet wurden erst 18 Jahre nach Erscheinen des Artikels veröffentlicht. Immerhin...
Wenn eine Zeitung jemand anders zitiert oder ein Interview veröffentlicht, ist sie völlig aus dem Schneider. Das muss von der Zeitung in keiner Weise korrigiert werden. Man findet auch so manche falsche Aussage zu Esperanto, die in Interviews geäußert wurde. Irgendwie habe ich insgesamt den Eindruck, dass es von der Gesellschaft nicht als besonders hohes Gut eingeschätzt wird, dass die Bürger über die Wirklichkeit korrekt informiert werden. Zeitungen achten auf ihren Ruf und vermeiden den Eindruck, sie würden auch mal Irrtümer verbreiten; Wissenschaftler haben ein ähnliches Bemühen. So hält sich so manches unnötig lange, was schon längst als unwahr entlarvt ist.
Allerdings lehrt die Erfahrung auch, dass sich selbst fest verwurzelte Irrtümer nicht ewig halten. Irgendwann wird der Unsinn zu offensichtlich. Vermutlich nähern wir uns in Sachen Esperanto diesem Moment. Erfreulich viele Wissenschaftler stoßen in anderem Zusammenhang auf Esperanto, forschen dazu und veröffentlichen das dann. Das wird allmählich auch die öffentliche Wahrnehmung des Esperanto beeinflussen.
Zur Person
Ich habe 1977 Esperanto gelernt und mal für eine Befragung abgeschätzt, dass ich die Sprache bisher wohl mehr als 25.000 Stunden lang benutzt habe. Ich habe eine Reihe von Funktionen in der Esperanto-Sprachgemeinschaft innegehabt und bin derzeit insbesondere Leiter des Vereins EsperantoLand und Pressesprecher des Deutschen Esperanto-Bundes.
Ich möchte, dass Esperanto als das gesehen wird, was es heute ist - gemeinsame Sprache einer internationalen Sprachgemeinschaft, der wohl ein paar hunderttausend Menschen angehören. Argumentieren möchte ich nicht etwa dafür, dass Esperanto als allgemeine Sprache eingeführt wird (das ist heute nicht realistisch), sondern dafür, dass jeder weiß, was Esperanto ist und was man damit machen kann. Es wäre schön, wenn zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer das ihren Schülern in einer Schulstunde mitteilen würden. Dann kann sich jede und jeder selbst entscheiden, ob das Lernen attraktiv klingt.
Kommentare 5
esperantinische sitten und gebräuche sind schwer zu durchschauen.
aber esperantinisches essen ist lecker!
Zwei Einflüsse auf Esperanto aus der Entwicklung der Welt habe ich vergessen zu erwähnen:
Reisewelle
Seit den fünziger Jahren ist es zunehmend leichter und preisgünstiger geworden, zunächst durch Europa und jetzt auch durch die Welt zu reisen. Das hat Esperanto spürbar befördert, weil es halt noch spannender ist, Leute persönlich zu sehen als nur Briefe zu schreiben.
Internet
Das Internet hat mehrere positive Effekte auf Esperanto. Zum einen ist natürlich der internationale Austausch weitaus leichter geworden. Auch jemand, der an seinem Ort keinen anderen Esperanto-Sprecher hat und vielleicht weit reisen müsste, konnte zunächst Mails schreiben, Internet-Seiten erstellen und lesen - und nun auch Videos in Esperanto anschauen, Vorträge und Musik, und auch per Skype kommunizieren.
Zum zweiten gibt es im Internet den Effekt des "Long Tail", langer Schwanz: Eine örtliche Sprachschule kann nur fünf oder zehn oder vielleicht fünfzehn Sprachen anbieten; da fällt Esperanto in der Regel raus. Eine VHS bietet vielleicht ein oder zwei Semester lang einen Esperanto-Kurs an - dann gibt es nicht mehr genug Schüler.
Ganz anders im Internet: Da gibt es viele Sprachlernseiten, die zwanzig, fünfzig oder hundert Sprachen anbieten. Esperanto kommt ab etwa zwanzig Sprachen vermehrt ins Spiel; fast alle kostenlosen Lernseiten mit 25 Sprachen bieten auch Esperanto an. Auf einer Seite habe ich es mal ausgerechnet, da hat Esperanto etwa ein halbes Prozent der Lerner, die eine andere Sprache als Englisch lernen. Das bringt viele neue Esperanto-Sprecher.
Stetes Wachstum in der Geschichte
Früher hatte ich immer gedacht, es gäbe klare Einschnitte in der Geschichte durch die Zeiten der Verfolgung und Weltkriege. Das gilt für die Aktivität (z.B. für die Zahl der jährlich herausgegebenen Bücher), interessanterweise aber nicht für die Anzahl der internationalen Esperanto-Vereinigungen. Hier ist ein Buch mit einer netten Grafik dazu (S. 129, Young S. Kim. Constructing a Global Identity: The Role of Esperanto. In: John Boli, George M. Thomas. Constructing World Culture: International Nongovernmental Organizations).
Der Beitrag ist zwar schon zwei Jahre alt und ich weiß nicht, ob Sie noch hier aktiv sind, aber ich kommentiere trotzdem mal, weil ich den Artikel erst jetzt gesehen habe.
Auch wenn sich der Vorkommentator denkzone8 darüber lustig macht, dass Esperanto keine mit "Sitten, Gebräuchen & Essen" verknüpfte Regionalsprache ist, habe ich aus genau diesem Grund letztes Jahr Esperanto gelernt: als neutrale Sprache mit internationalem Anspruch, die ich für Liedtexte verwenden kann. Zwar verwendet heute jeder Englisch, der sich an ein internationales Publikum richtet, aber Englisch ist so eng mit der angelsächsischen Pop-Kultur verbunden, dass es öfters unangemessen wirkt.
Weil ich in der Schule mal Latein gelernt hatte, war das die erste naheliegende Wahl. Zwar wurde Latein als "Weltsprache" (na ja, war nur Europa) in der Antike auf ebenso imperiale Weise durchgesetzt wie im 20. Jh. Englisch, aber später war Latein über 1000 Jahre lang tatsächlich eine neutrale Lingua franca, d.h. nirgendwo Muttersprache und zugleich Mittel der internationalen Kommunikation. Auch wenn ich meine Experimente mit Latein nach wie vor für gelungen halte (hier ist ein YT-Video als Beispiel), habe ich das aus mehreren Gründen nicht weiterverfolgt (kompliziert, elitär, keine allgemein akzeptierte Aussprache für neulateinische Texte, ...).
Dann hat mich jemand auf Esperanto aufmerksam gemacht, und ich hätte mir gewünscht, das wäre schon dreißig Jahre früher gewesen und die Sprache wäre statt Latein in der Schule angeboten worden: absolut regelmäßige Grammatik, logischer Aufbau, und erinnert klanglich an Italienisch. Ein Nachteil beim Dichten sind allerdings die fehlenden Synonyme (die aber wiederum die Vokabellerner freut) und die ausnahmslose Betonung auf der vorletzten Silbe, was die Anpassung an ein Versmaß schwierig macht. Letzteres ist übrigens auch Zamenhof aufgefallen, weshalb er in der Dichtung die o-Elision einführte, die mir aber eher wie eine Notlösung erscheint. Ich würde mich zwar immer noch als "komencanto" bezeichnen, aber hier ist ein YT-Video mit einem Beispiellied: "Fiŝoj en la dezerto".
Se vi volas, benvolu respondi en Ensperanto: mi bezonas praktikadon.
Danke sehr für den Kommentar, habe ich mit Freude gelesen. Sehr aktiv bin ich nicht, aber Freitag hat mich benachrichtigt :)
Toll, dass Sie auf Esperanto gestoßen sind und es auch gelernt haben :) Mi skribos en Esperanto sube.
Ja, leider wird über Esperanto zu wenig informiert und oft sogar falsch. Hier habe ich eine Reihe von unzutreffenden Informationen zusammengestellt, die sogar von Linguisten verbreitet wurden und werden.http://www.interlinguistik-gil.de/wb/media/beihefte/JGI2018/JGI2018-Wunsch.pdf
Ob denkzone8 sich in derselben befand, als er oder sie den Kommentar schrieb, möchte ich nicht beurteilen. Natürlich gibt es so ein paar Sitten und Gebräuche, die für Esperanto-Treffen üblich sind. Und da die Welt ja in Sachen Essen so manches zu bieten hat, habe ich eigentlich immer sehr abwechslungsreich gegessen bei Esperanto-Veranstaltungen :) Seit ein paar Jahren gibt es bei ein paar Treffen einen kulinarischen Begrüßungsabend, zu dem die Teilnehmer was Leckeres aus ihrer Region mitbringen. (Und ansonsten: Was wäre der Bezug des Englisch-Lernens zum Essen? Großbritannien und die USA haben ja so ihren besonderen Ruf insofern.)
Zur Verbreitung des Englischen werde ich wohl in den nächsten Tagen auf http://esperantoland.org/presse/ was einstellen. Mein Eindruck ist, dass das nicht vor allem durch imperiale Gewalt erreicht wurde, sondern insbesondere dadurch, dass die Bevölerung der USA sich zwischen 1850 und 2000 verneunfacht hat, die von Deutschland und Frankreich nur verdoppelt. Demzufolge war die Menge an wissenschaftlichen Veröffentlichungen und Wissenschaftlern einfach erdrückend.
Esperanto ist vielleicht nicht ideal zum dichten und für Lieder, aber es haben schon viele geschafft, was Brauchbares zu erstellen :) Hier sind etwa 3000 Liedertexte in Esperanto, http://kantaro.ikso.net/Und bei youtube gibt es auch so manches, https://www.youtube.com/results?search_query=Esperanto+muziko
Dass die Synonyme nun völlig fehlen würden, kann man eigentlich nicht sagen. Man kann die Dinge oft unterschiedlich ausdrücken. Mi skribas - ich schreibe. Mi metas literojn sur paperon - ich setze Buchstaben auf Papier, also letztlich dasselbe. Meiner Tochter fiel vor ein paar Tagen das Wort für Vorhang nicht spontan ein (kurteno); da hat sie antaŭfenestra tuko gesagt (Tuch vor dem Fenster). Natürlich ist das nicht gleich zu Beginn des Esperanto-Lernens locker zu bewerkstelligen; gerne kann ich da an jemand weiterleiten; ich bin hier erreichbar, http://www.esperantoland.org/eo/kontakto.html .
Auch die Geschichte mit der Betonung auf der vorletzten Silbe kriegt man im Laufe der Zeit immer besser in den Griff.
Mi vere tre ĝojas, ke vi lernis Esperanton. Mi komentos pri via muziko poste - aktuale mia retumilo ne donas sonon; mi devas restartigi mian komputilon, mi pensas. Mi deziras al vi plu bonan sukceson! Kontaktu min.
@LuWunsch-Rolshoven: "aktuale mia retumilo ne donas sonon"
Eble, ke la sonaplikaĵo de JuTubo estas malaktivigita sur via komputilo: ĉu vi provis premi sur la laŭtil-signo sub la video?
"Kontaktu min."
Mi skribos malpublike per retletero.