Nachruf auf Xatun

Diyarbakir Fragmente eines kurdischen Frauenlebens

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Am 21.04. 2016 wurde Xatun auf der Schnellstraße, die aus Diyarbakir führt, von einem Auto angefahren und fiel ins Koma. Knapp zwei Wochen später, am 06.05., ist sie morgens im Krankenhaus von Diyarbakir an Organversagen gestorben.

Xatun wurde irgendwann Ende der Vierziger Jahre in einem der Zaza-Dörfer in der Nähe Diyarbakirs geboren. Zaza ist eine der von KurdInnen gesprochene Sprache mit insgesamt ca. 4 Millionen SprecherInnen, die vor allem um Diyarbakir herum verbreitet ist.

Mit ungefähr 14 Jahren wurde Xatun mit Hassan verheiratet, ebenfalls Zaza, ebenfalls aus dem Dorf. Bald nach der Hochzeit brachte sie ihre erste Tochter zur Welt, mit der sie wiederum 15 Jahre später quasi Seite an Seite ihre und deren Kinder aufziehen sollte. Immer wenn jemand eine Bemerkung über mein schlechtes Türkisch macht, sagt eben diese Tochter, dass es besser ist als ihr eigenes und ich liebe sie sehr dafür.

Das Leben richtete sich nach den Jahreszeiten, im Winter konnte sie vor lauter Schnee manchmal nicht die Haustür öffnen, geschweige denn die Kinder in die Schule schicken. Die kleine Dorfschule, in der sich kurdische Lehrer dem Fakt ausgesetzt sahen, dass ihre und die Muttersprache ihrer Schüler laut türkischem Staat nicht existierte und sie also nicht nur auf einer anderen unterrichten, sondern die Benutzung der eigenen melden sollten.

Im Frühling konnten die Viehherden auf die Weiden getrieben werden und die schönste Zeit war der Spätsommer, die Weinernte, wo alle zusammen zwei Wochen am Stück durcharbeiteten, um dann wie von aller Last befreit Pekmez ( Traubensirup) und Pestil (Süßigkeit aus eingedicktem Traubensaft) herzustellen und unter dem Sternenhimmel zu feiern, zu essen, zu schlafen.

Als sie in den 90er Jahren aus ihrem Dorf vertrieben wurden, hatte Xatun zwölf Kinder auf die Welt gebracht, von denen zwei bereits im Kleinkindalter verstorben waren. Der Grund für die Vertreibung aus den Dörfern war der Vorwurf der Unterstützung der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans). Auf Nachfrage sagt eines von Xatuns Kindern lachend: Natürlich, alle haben mit der PKK sympathisiert! Neben den männlichen kamen auch weibliche kurdische Kämpferinnen an die Haustüren, um von ihren Idealen zu erzählen. Dass die Männer aufstehen mussten, wenn eine solche Frau den Raum betrat, dass diese Personen so viel Kraft und Weiblichkeit ausstrahlten, erfüllte Xatun mit Stolz und sollte auch Einfluss auf die Erziehung ihrer Töchter haben. Diese sollten das Kopftuch alle erst nach der Hochzeit aufsetzen. Auch wenn sie weiterhin im Haus und auf dem Weinberg ackerte, ging sie seitdem mit erhobenem Haupt durch die Straßen, wie so viele andere Frauen hier auch.

Xatun musste mit ihrer Familie das geliebte Dorf, in dem sie aufgewachsen war, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, verlassen und zusammen mit vielen anderen kurdischen Familien in die Stadt, nach Diyarbakir, ziehen. Der Thymiangeruch, die Tiere, die Weinreben musste sie nicht nur hinter sich lassen, sondern aus den Fenstern der kleinen grauen elenden Stadtwohnung mitansehen, wie all das durch das türkische Militär zerstört wurde.

In ihrer letzten Wohnung in Baglar, wo zuletzt im März 2016 der Krieg wütete, hängen noch hölzerne Geräte in der Küche, – ein Sieb für die im heißen Sand gerösteten Kichererbsen zum Beispiel. Gekocht hat Xatun nie, als sie mit über 40 Jahren in die Stadt kam, wollte sie sich nicht mehr an einen Herd gewöhnen. Als mit vereinter Kraft und Energie der abgebrannte Weinhang der Familie in den Bergen wieder Ernte abwarf, verbrachte sie im Sommer wieder manche Woche in den Bergen, bereitete Pekmez und Pestil zu, legte Obst und Gemüse ein oder trocknet es, sammelt Kräuter und Beeren.

In den zwei Wochen, die ich in Diyarbakir verbringe, packt mich auch Hüzün und ich frage mich, ob Orhan Pamuk, als er diese Form der Melancholie als türkisches National- und Istanbuler Stadtgefühl beschreibt, auch an die kurdische Bevölkerung am anderen Zipfel der Türkei gedacht hat. Ich übernachte immer wieder bei anderen Familienmitgliedern und eigentlich immer in großen schicken Wohnungen mit Neonlicht und aufwendigen orientalischen Teppichen – einem Band mit getrockneten Auberginen durch's Wohnzimmer gespannt und Dutzende in Stoff genähter Matten in den Schränken, falls Gäste kommen. Im Gegensatz zu Hatuns eigener Wohnung verfügen die ihrer Kinder und Enkel über Tische – wenn der Besuch dann kommt, wird das Essen aber doch bevorzugt auf einer Decke auf dem Boden serviert.

Ein paar Jahre nach der Flucht erkrankte Xatuns Mann an Krebs – vor Traurigkeit, sagt die Familie –, weit weg stirbt er in einem Istanbuler Krankenhaus. Dass ihm vor dem Tod die Zunge amputiert wurde, scheint wie die Kulmination des Gefühls, im fernen Istanbul komplett der eigenen Sprache und Möglichkeit, sich auszudrücken, beraubt zu sein.

Die Beerdigung Xatuns findet auf dem Dorf statt und während wir im Auto sitzen, lese ich die unheilvollen Tweets mit Hashtag Diyarbakir. Wir müssen durch eine Ausweiskontrolle der türkischen Polizei und die Hauptstraße an einer Stelle komplett verlassen, da einige Kilometer Strecke wegen einer kürzlich in einem türkischen Militärbezirk explodierten Bombe gesperrt sind. Wieder oder noch: In Diyarbakir herrscht Krieg. Auch wenn es vielleicht derzeit gerade mal kein lauter Krieg ist - der findet nun in anderen kurdischen Städten statt – ist es ein schwelender, drückender, schrecklicher Krieg. Die Stadt befindet sich im Belagerungszustand.

Kamen in der Stadt schon am ersten Tag über 1000 Menschen zu Kondolenzbekundungen – Mitglieder der weitverzweigten Familie und Freunde – , ist es nun relativ ruhig. Auf dem Dorf leben nur noch zwei Familien das ganze Jahr hindurch. Auf dem Rückweg halten wir an einem unscheinbaren Steingebäude, welches auf den ersten Blick wie eine Moschee aussieht, und es wird gebetet. Xatuns Grab ist nur wenige Kilometer von dem Moses' entfernt.

Vielleicht ist der Grund für Xatuns Tod tatsächlich dort verborgen, wo er in diesen Tagen immer mal wieder gesucht wird: Sie musste von hier gehen, und niemand hat ihr je die Regeln der Stadt erklärt. Ich wünschte, ich hätte sie kennenlernen dürfen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lila Wendel

denkt wie ein ganz normaler weißer mitteleuropäischer typ

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