Als tauchten 30 Millionen vor Nordamerikas Küste auf

Das neue Bagdad in Damaskus Syrien nennt die irakischen Flüchtlinge vorerst "Besucher" oder "Gäste", die bald wieder gehen werden

Mehr als vier Millionen Iraker sind auf der Flucht. Die gerade stattgefundene Irak-Konferenz im ägyptischen Sharm al-Sheikh kam nicht umhin, dies als humanitäre Katastrophe zu bezeichnen, die derzeit im arabischen Raum ihresgleichen sucht. Seit Anfang 2007 hat sich die Lage verschärft. Inzwischen fliehen pro Monat 50.000 Menschen vor Gewalt und Chaos hauptsächlich nach Syrien, Jordanien und Ägypten.

In einer Region, deren politische Landkarte verändert wird, liegt das neue Bagdad. "Hier ist jetzt Bagdad", beteuert Hussain. Wir sitzen auf leuchtend bunten Plastikstühlen am Rande der Sharea al Iraqi - der Irak-Straße, in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Früher trug dieser verstaubte Boulevard einen anderen Namen. Inzwischen nennt ihn niemand mehr so, denn die Schilder der Cafés, Galerien und Läden erzählen längst eine ganz andere Geschichte. Da betreibt eine "Bagdad-Bäckerei" ihre offenkundig florierenden Geschäfte, und nebenan verkünden Reklameflächen, dass für einen wirklich fairen Preis Fahrten zu und aus irakischen Städten gebucht werden könnten. Und zwar umgehend. Alle diese Zeichen sind irakisch, ebenso die Akzente, ebenso die Art, wie die Frauen ihre Kopftücher richten und ihre Kinder rufen.

Ich frage Hussain, warum er das wirkliche Bagdad verlassen hat. Er krempelt ein Hosenbein seines schwarz-roten Trainingsanzuges um und zeigt eine runde, dunkelrote Narbe. Dann zieht er einen Ärmel hoch und präsentiert drei weitere verheilte Wunden. Man habe mehrfach versucht, ihn umzubringen, als er noch im Innenministerium arbeitete. Dieses Ministerium sei als Bastion schiitischer Hardliner verschrien, und deshalb immer wiederAngriffen ausgesetzt gewesen - und das bis heute. Und er, Hussain, sei eben Schiit. Neben ihm sitzt Basel, ein sunnitischer Muslim. Warum ist er geflohen? - Basel vollzieht umgehend eine schroffe Bewegung mit der Hand an seiner Kehle entlang.

Es berührt mich, dass diese Männer, die vor einem Laden sitzen und Gläser mit heißem süßem Tee schlürfen nicht einfach nur ein düsteres Symbol für Depression und Arbeitslosigkeit sind, sondern mit allem, was sie sagen und andeuten, eine traurige Erinnerung verkörpern. Sie lassen spüren, was verloren ging. "Sie sitzen hier zusammen", sage ich, "als Schiiten, Sunniten, Christen ..." Doch das entlockt ihnen nur ein mattes Lächeln, und sie schütteln den Kopf über die religiöse Gewalt, von der ihr Land zerrissen wird.

"Das ist der neue Irak", meint Basel, der im vergangenen Jahr nach Damaskus aufbrach, dann allerdings, nach einigen Monaten, wieder nach Bagdad zurückkehrte, in der Hoffnung, der amerikanische Sicherheitsplan für die Hauptstadt werde Wirkung zeigen. Nun aber ist er wieder in Syrien und möchte es nicht noch einmal versuchen mit dem Irak. "Das wäre die Rückkehr in meinen sicheren Tod". Genauso dürfte es den 1,2 Millionen Irakern gehen, die augenblicklich in Syrien Zuflucht gesucht haben. Oder den 800.000 im benachbarten Jordanien.

In diesen Asylländern werden die Iraker nicht als "Flüchtlinge" bezeichnet, die Behörden sprechen euphemistisch von "Besuchern" oder "Gästen". Eine verständliche Vorsicht, denn während des arabisch-israelischen Krieges im Jahr 1948 strömten Millionen palästinensischer Flüchtlinge über die Grenzen dieser Länder - und sie sind bis heute als Entwurzelte und Heimatlose geblieben. Die jetzige Massenflucht der Iraker gilt als größte Vertreibung von Menschen im Nahen Osten seit dieser Zeit - ein massiver Exodus, dessen Konsequenzen erst langsam klar werden.

Bis jetzt bestehen keine Zeltlager. Reiche Iraker kaufen oder mieten Wohnungen, die weniger Wohlhabenden finden in den ärmeren Vierteln von Damaskus oder anderen Städten ein Refugium, sie verelenden zusehends. "Mir bleibt nichts anderes übrig, als betteln zu gehen", klagt Iman, die mit ihren 15-jährigen Zwillingen nach Syrien geflohen ist, nachdem ihr Mann bei einem Anschlag ums Leben kam. "Meine Kinder sagen jetzt oft: Besser wir sterben alle, als dass unsere Mutter zur Bettlerin wird".

Weder Syrien noch Jordanien sind der Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen von 1951 beigetreten. Doch die meisten Iraker können nirgendwo anders hingehen als in diese beiden Staaten. Europäische Aufnahmeländer finden sich kaum: Schweden hat eine Vorreiterrolle übernommen und seit 2003 etwa 9.000 Menschen aufgenommen. Im vergangenen Jahr öffneten die Vereinigten Staaten ihre Grenzen für ein paar Hundert Iraker, getrieben von der Kritik, zu wenig gegen das Elend zu tun, wollen sie nun 7.000 weitere Flüchtlinge ins Land lassen.

"Die Welt leugnet das Problem", bedauert Jordaniens Prinz Hassan bin Talal, der Elder Statesman des Haschemitischen Königreiches. Er erzählt, es sei immerhin US-Senator Edward Kennedy gewesen, der den Eindruck nicht verhehlen wollte, die Präsenz der Iraker in Jordanien entspräche dem Auftauchen von 30 Millionen Flüchtlingen vor den Küsten Nordamerikas. Fast 15 Prozent der gerade einmal sechs Millionen Menschen zählenden Bevölkerung Jordaniens würde im Moment aus Irakern bestehen - in Syrien sei das Verhältnis ähnlich.

Ein Ende des Exodus ist nicht absehbar: 50.000 Menschen fliehen seit Anfang 2007 im Durchschnitt pro Monat aus Bagdad, Basra, Kerbala oder sonst woher - 200.000 von Januar bis April. Ein kanadischer Diplomat sagt mir, seine Regierung sei noch dabei, "ihre Pläne zu entwickeln". Im Augenblick scheint es eher so, als würden alle die Situation leugnen oder verdrängen. Iraks Nachbarn wagen es nicht, das Sakrileg zu begehen und öffentlich gegen den heiligen Begriff der "arabischen Einheit" zu verstoßen, obschon Jordanien in aller Stille seine Grenzen befestigt hat. Sie alle glauben offenbar, das Problem werde sich von selbst erledigen, während sie gleichzeitig erleben müssen, wie dieser Zustrom alle Preise steigen lässt, von Häusern wie von Lebensmitteln, und der Druck auf Hospitäler und Schulen enorm ist.

Die Regierungen in Damaskus und Amman geben die Hoffnung nicht auf, der Irak werde sich bald selbst heilen. Hussain und Basel, die beiden verlorenen Gestalten an der Sharea al Iraqi, deren magere Ersparnisse schnell zur Neige gehen, glauben statt dessen, sie könnten ihr Land anderswo wieder errichten. Ihre Vorstellung, die einer Verleugnung gleichkommt, mag verzeihlich sein, weil sie ihnen hilft, weiter zu leben. Die Verleugnung dieser Flüchtlingstragödie durch die Welt aber darf nicht andauern.

Die Autorin arbeitet als Auslandskorrespondentin im Nahen Osten für die BBC.


Flüchtlinge aus dem Irak

Im Nahen Osten

Syrien1.200.000

Jordanien800.000

Ägypten100.000

Iran55.000

Libanon40.000

Türkei10.000

Außerhalb der Region*

Deutschland52.000

Großbritannien22.500

Niederlande22.000

Australien11.000

Schweden9.000

USA6.000

Kanada4.000

(*) Mitgerechnet sind hier auch all jene Iraker, die bereits vor 2003 ihr Land verließen.

Quelle: UN-Hochkommissariat für Flüchtlingsfragen


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