Perspektiven sozialistischer Reformpolitik

SPD und Sozialismus Mit der SPD ist vielleicht kein Sozialismus zu machen, ohne sie aber auch nicht. Und gegen sie erst recht nicht – noch zumindest. Es wäre falsch, sie aufzugeben

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Quo vadis, SPD?
Quo vadis, SPD?

Bild: Carsten Koall/Getty Images

Die SPD ist im Moment ein erbärmliches Häufchen Elend. Sie steht für alles andere, aber nicht für eine emanzipatorische Politik. Es erscheint offensichtlich, dass mit der SPD kein Sozialismus mehr zu machen ist, ja gar lächerlich, überhaupt die SPD mit dem Sozialismus in Verbindung zu bringen. Und dennoch sollte man die SPD als emanzipatorische Kraft nicht abschreiben und im Kampf für den Sozialismus endgültig aufgeben.

Die Kernprobleme der SPD

Im Hamburger Programm, welches das aktuelle Grundsatzprogramm der SPD ist, steht noch immer: „Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist.“[1] Von diesem Anspruch – von seiner Verwirklichung ganz zu schweigen – ist die SPD momentan meilenweit entfernt. Das wurzelt in zwei zentralen Grundproblemen der Partei.

Erstens wäre da die Visionslosigkeit. Man ist mittlerweile stolz darauf, weder alternative Lösungsansätze zu haben noch sich des Populismus zu bedienen. Die derzeitige und künftige SPD will demnach keine Alternative mehr sein. Sie will eine technokratische Institution sein, die nicht mehr mit politischen oder gar ideologischen Richtungsdebatten nervt. Denn diese hat sie für sich und die „arbeitende Mitte“ in diesem Land bereits entschieden: Hinter dem aristotelischen „guten Leben“, verbergen sich Wachstum, Wachstum, Wachstum.[2] Arbeitsplätze und Verteilungsspielräume hängen davon ab, also die Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten am ungeheuerlichen Warenberg des Kapitalismus. Wachstum hat aber noch einen anderen Zweck. Foucault zufolge erhält das ökonomisch-politische System der Bundesrepublik selbst seine permanente Legitimation durch Wirtschaftswachstum und Wohlstand.[3]

Das führt uns zum zweiten Problem der SPD: „Um sich an diesem politischen Spiel um das neue Deutschland zu beteiligen, mußte sich folglich die SPD jenen Thesen des Neoliberalismus* anschließen, wenn schon nicht den ökonomischen, wissenschaftlichen oder theoretischen Thesen, dann zumindest der allgemeinen Praxis als Regierungspraxis dieses Neoliberalismus.“[4] Dies erfolgte mit dem Godesberger Programm und ebnete der SPD den Weg zur Kanzlerschaft von Willy Brandt und später von Gerhard Schröder. Somit wurde die SPD erst politisch relevant, als sie den neoliberalen Konsens der Bundesrepublik akzeptierte und sich der liberalen Gouvernementalität (Regierungskunst) bediente um den neoliberalen Konsens aufrecht zu erhalten. Unter kapitalistischen Verhältnissen bedeutet das nichts anderes, als dass sie weiterhin das System und die Kapitalakkumulation stabilisiert. Von einer Überwindung des Kapitalismus ist die SPD weit entfernt und damit auch vom sozialistischen Anspruch ihres Grundsatzprogrammes. Soweit nichts Neues. Dennoch führt auf dem Weg zum Sozialismus kein Weg an der SPD vorbei.

Reformismus oder Revolution?

Bevor diese These begründet wird, muss zunächst die Schlüsselfrage des Sozialismus in den Blick genommen werden: Reformismus oder Revolution? Schon Bernstein und Kautsky haben darüber debattiert und die radikale Linke in Europa debattiert noch immer. Noch heute wird dem Reformismus vorgeworfen, versagt zu haben, und das Scheitern Syrizas scheint diesen Vorwurf zu bestätigen. Doch erfolgreiche Revolutionen sich ebenso nicht erkennbar. Keiner der beiden Wege hat bisher zum Ziel geführt, doch dem Reformismus muss man immerhin zugutehalten, dass er Sozialstaatlichkeit und liberale Demokratie in einigen Ländern erringen konnte. Es gibt allerdings noch weitere Einwände gegen den revolutionären Weg.

Der erste betrifft die Geschichtsauffassung: Hält man am historischen Determinismus von Marx fest, wonach der Weg zum Sozialismus vorbestimmt ist, oder erkennt man an, dass dieser Determinismus nicht existiert, ja überhaupt nicht existieren kann? Doch unabhängig davon stellt sich die nächste Frage, wer denn das revolutionäre Subjekt sein soll? Und schließlich bleibt offen, wie eine postrevolutionäre Gesellschaft funktionieren soll, deren Mitglieder noch im prärevolutionären Kapitalismus sozialisiert wurden.

Dass die Theorie des historischen Determinismus nicht haltbar ist, wurde sowohl von Sartre[5] hergeleitet als auch von der Geschichte empirisch bestätigt. Ohne diesen Determinismus gibt es auch keinen stringent durchgezeichneten Weg in den Sozialismus, welcher durch die Revolution abgekürzt werden könnte. Axel Honneth plädiert vielmehr für einen historischen Experimentalismus,[6] welcher aber auf den Reformismus angewiesen ist. Denn nur dieser ermöglicht es, sozialistische Praktiken auszuprobieren und zu evaluieren. Für eine Revolution bedarf es hingegen eines festen Zieles. Doch woher soll man wissen, was das richtige ist und ob es funktionieren wird? Richtig, indem man es versucht, also experimentiert.

Auch das Proletariat als revolutionäres Subjekt ist eine Illusion. Weder ist es mittlerweile empirisch auffindbar, noch war es jemals emanzipatorisch, geschweige denn revolutionär.[7] Was unter anderem daran liegt, dass eine Interdependenz zwischen gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein existiert. Das Gesellschaftssystem bedarf gewisser Charaktereigenschaften des Menschen um reibungslos funktionieren zu können. Sowohl Lebenspraxis als auch Wertvorstellungen, Träume und Wünsche sind an die gesellschaftlichen Gegebenheiten angepasst.[8] Sind sie es nicht, droht dem Mensch die Marginalisierung, wenn er keine Nische findet. Die Charakterstruktur der Menschen also, welche kapitalistisch-neoliberal geprägt ist, ist nicht mit den gesellschaftlichen Anforderungen im Sozialismus vereinbar. Unter diesen Bedingungen muss eine revolutionäre Etablierung einer sozialistischen Gesellschaft scheitern. Hinzu kommt, dass eine revolutionäre Umwälzung des Gesellschaftssystems im Falle eines gewaltsamen Umsturzes, Herrschaft und Hierarchien reproduzieren würde, weil sie sich den Gewaltmitteln ihrer Gegner bedient und damit Menschen in Positionen drängen, denen mehr an der Macht als an den revolutionären Idealen liegt. Die Revolutionen in Russland und China zeugen davon.

Sozialismus und Neoliberalismus

Der Neoliberalismus ist die hegemoniale Ideologie der heutigen Zeit. Deshalb muss das Verhältnis des Sozialismus zum Neoliberalismus näher betrachtet werden um Anknüpfungspunkte sozialistischer Reformpolitik im Heute zu eruieren. Dabei gilt es, zwei Diskussionsstränge soweit es geht voneinander trennen: Neoliberalismus als Gouvernementalität und als Ideologie.

Auch wenn Foucault keine stringente Definition der Gouvernementalität ausgearbeitet hat, so kann man sie grob als „Art und Weise, mit der man das Verhalten der Menschen steuert“[9], umschreiben. Foucault stellt eine Schwäche des Sozialismus heraus: Dem Sozialismus fehlt eine eigene Gouvermentalität und konnte bisher nur im Anschluss an andere Gouvermentalitäten ansatzweise umgesetzt werden, wie Foucault am Beispiel von Schmidt und Honecker im damaligen Deutschland nachweist. Beide stehen in der sozialistischen Tradition, doch bedienen sie sich unterschiedlicher Gouvermentalitäten (der neoliberalen in der BRD und der polizeistaatlichen in der DDR), weil eine sozialistische Gouvermentalität nicht existiert.[10] Sie existiert vielleicht deshalb nicht, weil der Sozialismus immer eine Emanzipationsbewegung war und Herrschaft an sich überwinden wollte. Kann das der SPD wirklich zur Last gelegt werden?

Für einen geordneten Übergang zum Sozialismus und im Sozialismus selbst bedarf es dennoch einer Gouvermentalität. Geht man von einem Freiheitsbegriff aus, wonach derjenige frei ist, der jederzeit tun kann, was er will, sobald er vorhat es zu tun,[11] müssen gewisse Freiheiten eingeschränkt werden um andere Freiheiten zu garantieren. Auch wenn es paradox klingen mag, so ist diese Synthese aus negativer und positiver Freiheitsauffassung die plausibelste Definition. Weder ist Freiheit der einzige letzte Zweck, noch sollte Freiheit mit anderen letzten Zwecken vermischt werden. Im Sozialismus ist diese Freiheit nicht ohne Gleichheit an Freiheit denkbar, was der Kernunterschied zum Liberalismus ist. Zudem wird auch im Sozialismus das Reich der Notwendigkeit fortbestehen, auf dem das Reich der Freiheit fußt. Sprich: Die gesellschaftlich notwendige Arbeit muss gerecht koordiniert werden und es bedarf dazu einer Gouvermentalität. Wenn es keine eigene sozialistische Gouvernementalität gibt, muss man sich vorerst einer existierenden bedienen, was einen vor die Wahl zwischen neoliberaler oder polizeistaatlicher Gouvernementalität stellt. Angesichts der katastrophalen Erfahrungen mit dem Sozialismus polizeistaatlicher Prägung ist die neoliberale Gouvernementalität emanzipatorischer, ermöglichte sie doch die Gleichberechtigung vieler Bevölkerungsgruppen.

Auch ideologisch ließe sich eine sozialistische Politik an den Neoliberalismus anschließen. So gewährt der Neoliberalismus einige Freiheiten, die es zu schätzen gilt, doch handelt es sich dabei nur um Rechte. Insbesondere das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln als Basis des Kapitalismus verhindert hingegen die Realisierung der Rechte, weil sie dem Großteil der Menschen die Mittel dazu vorenthält. Dies zu thematisieren bedeutet, mit dem neoliberalen Konsens politisch zu brechen. Dazu bedarf es einer Verschiebung des öffentlichen Diskurses von der ökonomischen Wachstumsfixierung hin zu mehr Autonomie. Die neoliberale Gouvermentalität macht das nicht überflüssig.

Etablierung sozialistischer Politik

Für eine sozialistische Politik braucht es in der parlamentarischen Demokratie immer parlamentarische Mehrheiten, zu deren Erringung Parteien unverzichtbar sind. Eine linke Mehrheit ist ohne die SPD nicht denkbar, noch nicht. Zwar scheint ein solches Bündnis in weite Ferne gerückt zu sein, doch gibt es in allen drei Parteien Kräfte, die darum kämpfen. Diese gilt es zu unterstützen, auch in der SPD. Jedoch bleibt ein solches Bündnis samt parlamentarischer Mehrheit sinnfrei, setzt es sich nicht eine emanzipatorisch-sozialistische Politik zum Ziel und bricht mit dem neoliberalen Konsens. Die Akzeptanz und Affirmation einer solchen Politik hängt vom Diskurs über die politischen Ziele und der wissenschaftlich und praktisch bewiesenen Funktionsfähigkeit ihrer Mittel ab. Das bedeutet für eine sozialistische Linke drei Kämpfe zu fechten, die einander bedingen.

1. Der politische Kampf um die Ziele der Gesellschaft muss den politischen Diskurs ändern. Hierbei lässt sich an eine zunehmende Skepsis der Wachstumsfixierung anschließen, welche auf die ökologisch-planetaren Grenzen und das Auseinanderfallen von Wachstum und Wohlstand verweisen. Auch lassen sich Entfremdungserfahrungen aufgreifen, z.B. dass die Zeit für Familie, Freunde oder Ehrenamt fehlt, weil man einem permanenten individuellen Konkurrenzkampf ausgesetzt ist. Die wachsende ökonomische Ungleichheit ist ebenfalls eine Folge kapitalistischen Wachstums, schließlich bedeutet Wachstum nichts anderes als Kapitalakkumulation. Dies widerspricht weitverbreiteten Gerechtigkeitsvorstellungen, sodass man prinzipiell folgern kann, dass eine neue sozialistische Diskurshegemonie auf vorhandenen moralischen Vorstellungen der Menschen aufbauen kann.

2. Der wissenschaftliche Kampf muss insbesondere in der Ökonomie geführt werden, weil sie in ihrer neoklassischen Ausprägung die dominierende Sozialwissenschaft ist und über die Funktionsfähigkeit politischer Instrumente entscheidet. Es muss plausibel erklärt werden, dass der Markt nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen die effizienteste Koordination ist. Dafür benötigt es nicht weniger als ein neues ökonomisches Paradigma.

3. Der experimentalistische Kampf ist die Herausforderung, das Wissen über die Praktikabilität sozialistischer Projekte zu sammeln und durch weitere Projekte zu vergrößern.[12] Genossenschaften, Wohnprojekte, etc. liefern nicht nur empirisches Material für den wissenschaftlichen Kampf, sie machen den Sozialismus erlebbar.

Hoffnungsschimmer

Für diesen dreifachen Kampf ist die SPD momentan unverzichtbar. Nicht nur die parlamentarische Mehrheit hängt an ihr. Die SPD ist eng mit den Gewerkschaften verzahnt und wirkt noch immer in breite gesellschaftliche Schichten. Auch gibt es ein paar Hoffnungsschimmer: Der Mindestlohn bspw. zeugt davon, dass die SPD fähig und willens ist, linke Projekte zu realisieren, sobald diese Rückhalt in der Bevölkerung haben. Es zeigt aber auch, dass eine gesellschaftliche Mehrheit weder die neoliberalen Gerechtigkeitsvorstellungen teilt, noch Vertrauen in die absolute Effizienz marktwirtschaftlicher Koordination hat. Die Debatte zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird erneut die Möglichkeiten bieten, das Thema allgemeiner Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich auf die Agenda zu setzen. Und es gibt in den linken Parteien Kräfte, die gewillt sind, wieder über Steuerpolitik zu reden. Insbesondere die Erbschaftssteuer bietet Perspektiven auf eine sukzessive Vergemeinschaftung der Produktionsmittel.

Niemand sagt, dass es leicht wird. Und niemand kann sicher sagen, dass es erfolgreich sein wird. Aber es ist denkbar und somit möglich, einen reformistischen Weg zum Sozialismus einzuschlagen. Es ist vielleicht der einzig mögliche. Mag aber auch sein, dass ich mich irre. Ich habe dennoch versucht eine sozialistische Perspektive fernab des bloßen Parteiaustritts zu eröffnen, welche mehrdimensional und vor allem realisierbar ist. Dafür benötigt man die SPD gewiss nicht allein. Die Kämpfe können und müssen ebenso in und mit anderen relevanten linken Parteien, Gewerkschaften, linken NGOs oder alternativen Projekten weitergeführt werden. Hervorzuheben bleibt jedoch, dass diese Alternativen im Dreikampf einander nicht ausschließen, sondern einander bedingen, ja sogar gegenseitig begünstigen. Nicht dem ein oder anderen politischen Akteur muss der Kampf angesagt werden, sondern dem neoliberalen Konsens – auch in der SPD.


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*Mit Neoliberalismus meint Foucault die deutsche Ausprägung, welche als Ordoliberalismus geläufig ist.

[1] SPD-Parteivorstand (Hrsg.): Hamburger Programm, S. 16-17.

[2] Vgl. SPD-Parteipräsidium: Starke Ideen für Deutschland 2025, S 7.

[3] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, S. 125.

[4] ebenda, S. 132.

[5] Vgl. Sartre: Materialismus und Revolution.

[6] Vgl. Honneth: Die Idee des Sozialismus, S. 85-119.

[7] Vgl. Fromm: Arbeit und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches.

[8] Vgl. Fromm: Wege aus einer kranken Gesellschaft.

[9] Foucault: Die Geburt der Biopolitik, S. 261.

[10] Vgl. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, S. 135-137.

[11] Vgl. Wolf: Freiheit – Analyse und Bewertung, S. 87.

[12] Vgl. Honneth: Die Idee des Sozialismus, S. 113.

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