Das ganze Jahr läuft die Erinnerungsmaschinerie. Vor hundert Jahren brach der Erste Weltkrieg aus – aber was bedeutet er über Historikerzwiste und Gedenkrituale hinaus heute noch? Für mich, meine Familie, meine Stadt? Und was bedeutet er für Europa? Auf diese Fragen will das Festival „Europe 14/14“ versuchen, Antworten zu geben. Im Foyer des Maxim-Gorki-Theaters steht einer der Organisatoren. Um den Hals trägt er ein Band mit Identitätskarte. Darauf kann man Name, Nationalität und das Motto der Veranstaltung lesen: „Look back, think forward“. Die 400 Teilnehmer, zwischen 18 und 25 Jahre alt und aus mehr als 40 Ländern angereist, sind gerade im benachbarten Deutschen Historischen Museum. Frank-Walter Steinmeier spricht dort, hier ist es still.
„Talking Straight“ steht auf dem Programmzettel. Es geht nicht nur um Erinnerungsarbeit, auch neue Zugänge zu einem Europa 2014 sollen erfahrbar gemacht werden. Ein junger Mann, behaarte Waden, gelber Neonrock, beige High Heels, schweres Parfum, empfängt mich auf einem orientalischen Teppich. Mit großer Selbstverständlichkeit beginnt er mit mir zu plaudern. Dass ich seine eigenwillige, frei erfundene Sprache nicht verstehe, spielt keine Rolle – ich bin willkommen. Die Worte „super“ und „bio“ helfen über etwaige Sprachbarrieren hinweg und bevor irgendwelche Zweifel aufkommen, halte ich ein Glas mit Apfelsaft in der Hand. Während ich trinke, schwingt er sein buntes Gymnastikband durch die Luft. Ich muss lachen. Meine Perspektive auf Europa? So weit, eindeutig bunt und chaotisch.
Europa als Cupcake
Zu Technosounds führt der ungewöhnliche Tourguide durch die Gänge und Hintertüren des Theaters in einen Seminarraum. 15 Minuten später habe ich gelernt, dass Europa wie ein Cupcake sei. Oben „queer topping“, in der Mitte eine bunte Mischung aus verschiedenen Elementen und unten wird alles vom Papierförmchen, der „Frontex“, zusammengehalten. Im Ernst? Frontex ist das harmlose Papiertütchen Europas? Wahrscheinlich schießen die auch nur mit Papierkügelchen, wenn sie Europas Grenzen verteidigen? Frontex-Beitrittsformulare gibt es jedenfalls gleich dazu. Meine Perspektive auf Europa? Es kann nur mit Militärgewalt zusammengehalten werden. Und sie brauchen dafür noch Freiwillige. Gar nicht mehr so lustig.
Jeder Teilnehmer des Festivals kann aus 22 verschiedenen Workshops wählen. „Gaming the Great War“ heißt einer. Ein Videospiel-Prototyp zur Geschichte des Ersten Weltkriegs soll entwickelt werden. Die Kriegsspielzentrale befindet sich im ersten Stock. Dort herrscht Schweigen. Jugendliche mit Kopfhörern sitzen vor Laptops. „Soll ich für dich schießen?“ „Wie geht das?“ „Ah, linke Maustaste, verstehe. Cool, getroffen. Bäähm!“
Ein Team bastelt an einem Klon von Angry Birds, nur dass hier Soldaten statt Vögel abgeschossen werden. Die zweite Gruppe setzt sich mit Emotionen auseinander, mit denen ein Soldat im Schützengraben konfrontiert wird. „War against Insanity“ soll das Spiel heißen. Das dritte Team begleitet in seinem Game eine Familie und ihre Erlebnisse im Krieg. Auf die Frage, ob das hier der richtige Weg sei, sich mit dem Weltkrieg auseinanderzusetzen, antwortet einer der Teilnehmer: „Es ist ein Weg. Und gerade für junge Leute ein einfacherer.“ Das Grauen des Krieges scheint dabei aber sehr weit weg.
Während der App-Performance „The Rise of Glory“ ist man dann plötzlich ganz nah dran. Der französische Soldat und Flieger Pierre Demarzé schrieb von der Front Briefe an seine kleine Schwester. Sein Nachfahre Mikaël Serre liest diese laut vor. Es scheint, als suche auch er selbst nach Antworten und einem Zugang zu dem Thema. Serres Sohn spielt währenddessen auf dem Smartphone das Flieger-Abschuss-Spiel Rise of Glory. Ein Doppeldecker nach dem anderen fällt vom Himmel. Zwischen dem Vorlesen zweier Briefe sucht Serre nach weiteren Informationen im Internet. Dabei stolpert er über Gasmasken auf Ebay. Ist das alles, was geblieben ist? Das Schizophrene am heutigen Umgang mit dem Ersten Weltkrieg wird deutlich, als sich das Flugzeug der Spiel-App unter Maschinengewehrsalven zu den Abschiedsworten aus Demarzés letztem Brief in den Boden rammt. Unterhaltung und Erinnerung verschmelzen. Und deutlich wird, wie wichtig persönliche Geschichten Einzelner für das Verstehen eines Kriegs sind. Alles andere ist zu abstrakt, zu weit weg.
Nach vorn schauen
Und jetzt? Was bedeutet das nun alles für heute? Für Europa? An was soll ich mich erinnern? Hat mir die Veranstaltung meine eigenen Fragen beantwortet? Ein Mädchen aus Serbien, lange braune Haare, blaue Friedenstauben am Ohr, sagt, das Gefühl, das die meisten hier wohl mit nach Hause nähmen, sei, dass man den ganzen Hass hinter sich lassen und gemeinsam nach vorn schauen müsse. Es klingt so simpel – und ist doch oft so schwer umzusetzen.
Auf der Abendveranstaltung „After the Fire“, wo es um den Klang Europas nach dem Krieg und ein gemeinsames Erleben der musikalischen Einflüsse seitdem geht, sehe ich das Mädchen aus Serbien dann nicht mehr. Überhaupt wird der Saal von Performance zu Performance leerer. „Wir gehen in eine Bar, kommst du mit?“, höre ich mehrfach. Der musikalische Ritt durch die vergangenen 100 Jahre wirkt auch einfach etwas zu ambitioniert.
Aber immerhin, wer die ersten drei Stunden bis zum Heymoonshaker-Konzert durchgehalten hat, erfährt dann doch noch, wie sehr Musik im heutigen Europa ein bis dahin verschlafenes Publikum wachrütteln und von den Stühlen reißen kann. Mit ihrer Mischung aus Beatbox- Blues und Dubstep-Rock repräsentieren die beiden Musiker ein Europa, das neue unbekannte Elemente mitaufnehmen und zu etwas wirklich Großem zusammenfügen kann. Für mich bleibt zwar vieles unbeantwortet, aber ich gehe mit einer Zeile im Kopf, die gerade noch auf der Bühne gesungen wurde: „After the fire, the fire still burns.“
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.