Samstagnachmittag, kurz nach drei. Die Revaler Straße in Berlin-Friedrichshain wirkt verschlafen. Touristengrüppchen und letzte Brunchwütige mit Kleinkindern verstopfen den Gehweg. Kälte schlägt einem ins Gesicht. Hier, direkt zwischen RAW-Tempel und Cassiopeia, findet heute das „Berlin Ska City Festival“ statt. Gastgeber für das Treffen der sogenannten Offbeatszene ist das Astra-Kulturhaus. Auf vereinzelten Plakaten protzt das Line-up von neun internationalen Ska-Bands. All-Time-Favourites wie The Slackers oder The Busters fehlen aber.
Die spielen mittlerweile lieber eigene Konzerte, wie ein Flyer vom SO36 verrät. Filmvorführung und Aftershowparty gibt es hier dafür obendrauf. Für 29 Euro Eintritt, fast geschenkt, oder? Der Eingangsbereich ist leer. Stempel, Taschenkontrolle und der Hinweis: Wenn man erst einmal drin ist, dann darf man nicht wieder raus. Raue Sitten. Haben die Veranstalter Angst, dass die Leute sonst abhauen? Und wozu dann eigentlich der Stempel?
Erinnerungen an wilde Ska-Abende in der Potse, einem Westberliner Kulturzentrum von Punks für Punks, das eher an ein besetztes Haus erinnert, werden wach. Unvorstellbar, dass jemand versucht hätte, den Leuten das freie Kommen und Gehen zu verbieten – okay, hat natürlich auch keinen Eintritt gekostet. Aber auch bei Ska-Partys im Ex aka Muvuka aka heute Clash wäre das undenkbar gewesen.
Wir um die 40
Die letzte Band und damit geplanter Höhepunkt des Abends, The Hotknives, spielt erst um ein Uhr nachts. Zehn Stunden bis dahin, hier ist Kondition gefragt. Also erst mal den Kinofloor auschecken, ist ja noch gar nichts los, und die erste Band spielt erst in einer Dreiviertelstunde. Kleiner Saal, goldene Wände, vier Sitzreihen, alles leer. Nach fünf Minuten Film stellt sich die vorhergegangene Jackenabgabe an der Garderobe als fataler Leichtsinn heraus. Zähneklappern und Kaffeefantasien folgen. Zum Glück ist die Zusammenfassung des ersten Festivals, das 2013 im Huxleys Neue Welt stattfand, nach 15 Minuten zu Ende. Angeblich tobte damals um 18 Uhr bereits der Saal, ambitionierte Vorstellung.
In Anbetracht kalter Füße, steifer Finger und letzter Aufwärmversuche vor dem Lüftungsrohr bleibt als letzte Konsequenz nur noch der Kauf einer Schüssel heißen Chilis für fünf Euro. Die Ska-Anhänger, zu der ja auch viele Punks gehören, scheinen sich dem Konsumkapitalismus offenbar deutlich angenähert zu haben. Den ganzen Abend wird fleißig konsumiert, über den Wucherpreis beschwert sich keiner. Ist die Ska-Szene alt, wohlhabend und angepasst geworden?
Das Durchschnittsalter liegt hier jedenfalls irgendwo zwischen 30 und 40. Mancher hat selbst die 50 sicher passiert. Dass dann später die Ska-Band Rolando Random & The Young Soul Rebels ständig von einem Klassentreffen spricht, passt irgendwie ziemlich gut ins Bild. Immerhin schafft sie es, als erste und einzige Lokalband an diesem Abend, den Anstandsabstand der mittlerweile 200 Leute zur Bühne aufzulösen und dem Publikum mit einem harten Ritt durch deutschsprachigen Rocksteady, Reggae, Punk und schließlich schnellem Upbeat-Ska ordentlich einzuheizen. Die Devise scheint klar: Je schneller der Beat heute Abend, desto besser. Warum? Es ist und bleibt scheißkalt. Der Wunsch nach einer langsameren Version des temporeichen Ska, dem sogenannten Rocksteady, wie es die Jamaikaner aufgrund der großen Hitze dort vor etlichen Jahrzehnten einforderten, erscheint hier völlig absurd. Also Upbeat, bitte! Und wirklich, 17.30 Uhr, der Saal rockt, Respekt! Trotzdem haben die meisten immer noch Jacken an.
Doch noch eine Tüte
Kurz danach platzt das unbeheizte Raucherzelt aus allen Nähten. Ja genau, das Ska-Publikum geht zwischen jedem Konzert artig in den Raucherraum. Das ist so auffällig, dass der Sänger von Boss Capone, einer Ska-Band aus Amsterdam, während des Konzerts einmal im Scherz laut aufschreit und die Security auffordert den einzigen rauchenden Menschen im Saal, den er gerade entdeckt habe, doch bitte zu entfernen. Geradezu subversiv, als sich während Rude Rich & the High Notes den Klassiker The Israelites von Desmond Dekker and the Aces zum Besten geben, tatsächlich noch jemand eine Tüte ansteckt.
Wieder Pause, wieder Ansturm auf das Raucherzelt. Rockabilly-Girls mit Polka-Dot-Blusen stehen hier neben Rude Boys mit Fred-Perry-Polo-Shirt, hochgekrempelten Jeans, Doc Martens und Schiebermützen, der Punk daneben hat diverse Antifa-Aufnäher auf seinem schwarzen Kapuzenpullover, und sein Skinheadkumpel trägt einen Lonsdale-Sweater. Sie liegen sich in den Armen.
Passt das zusammen? Zeichen, die früher eindeutig für politische Zugehörigkeit standen, spielen hier offenbar keine Rolle mehr. Friedliche Koexistenz einer extrem heterogenen Ska-Szene im Raucherbereich. Alles scheint erlaubt. Alle haben Spaß. Rockabilly und Oi-Punk, Rastaman und Skinhead, Rude Boy und Antifaler. Ein buntes Treffen der Subkulturen. Ziemlich männerdominiert, wie immer. Die einzige Frau mit Skinhead sticht hervor. „Tonight I am a Rude Girl“ schallt es von der Bühne herüber, wo Babylove and the Vandangos mittlerweile vor einem vollen Saal spielen. Wieso spielt hier eigentlich keine einzige Frauenband?
Acht Stunden Festival sind vorbei, die ersten machen schlapp. Die wenigen vorhandenen Sessel und Sitzmöglichkeiten werden belagert. „Pick it up/Pick it up/Pick it up“, tönt El Bosso ins Mikrofon. Trotz einsetzender Müdigkeit wird vor der Bühne weiter wüst gefeiert und gepogt. Die Stimmung wird von Konzert zu Konzert ausgelassener, und die Temperatur im Saal steigt endlich. Nach zwölf Stunden Ska-Marathon spült das Astra-Kulturhaus immer mehr der 1000 Festivalteilnehmer zurück auf die Straße. Platte Füße, den Offbeat der Gitarren in die Ohrmuschel gebrannt und nicht ganz sicher, welches Gefühl überwiegt – dead or alive?
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.