Afropäische Reise

Buchrezension Migration ist derzeit eines der Meta-Thema schlechthin. Wie sie sich konkret ausgestaltet, zeigt »Afropäisch« – ein Buch über die afrikanischen Communities in Europa.

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»What is Afroeuropean?« Teaser zum Buch mit Johnny Pitts (Penguin Verlag, englischsprachig)

Sagen wir es offen und ungeschönt: In Sachen »Blackness« haben die meisten von uns keine Ahnung – oder zumindest ärmlich wenig. Tatsache ist: Wer nicht in Berlin–Kreuzberg lebt, im Pariser Afrikanerviertel Goutte d'Or oder den Trabantenstädten rund um Amsterdam, kriegt vom Überlebenskampf der in Europa lebenden Schwarzafrikaner gemeinhin ebensowenig mit wie von ihren Sorgen, Freuden und auch kulturellen Eigenheiten. In der Regel ist der zweitgrößte Kontinent der Erde vor allem für dunkelgefärbte Schlagzeilen gut – islamistische Milizen, Warlords, Völkermorde, Staaten, die nur auf dem Papier bestehen, Hunger und schließlich die Folgen von allem auf dem Mittelmeer und in den Lager-Enklaven von Marokko bis Calais. Der Rest – darunter auch die Menschen mit ihren konkreten Anliegen und ihren Hoffnungen – verschwindet für gewöhnlich hinter den Fragestellungen derjenigen, die den politischen Einlassschlüssel in der Hand haben oder sich als deren Zurufer(innen) in Szene setzen: Soll man diesen oder jenen Asyl geben? Wie ist der Aufenthalt politisch auszugestalten (sofern man ihn gewährt)? Und, bekanntlich gehört auch das zu den Dingen, die man zumindest einmal sagen dürfen sollte: Was ist mit den Straßendealern im Görli, oder in der Amsterdamer Altstadt?

Migration ist in den Schlagzeilen – teils berechtigt, teils in populistisch zugespitzter Form. Was jedoch ist mit denen, die bereits da sind – teils seit Jahrzehnten, oder schon seit mehreren Generationen? Dieser – und einer Reihe damit zusammenhängender Fragen – geht ein Buch nach, welches im September erschienen ist: Afropäisch. Eine Reise in das schwarze Europa von Johnny Pitts. Pitts ist Brite – genauer: TV-Moderator, Buchautor und Fotograf. Dass die Läufe des Schicksals ihm eine dunkle(re) Hautfarbe verabreicht haben, ist für seine Identität – genauer: die Art und Weise, wie er sich und die Welt wahrnimmt – allerdings ebenso bestimmend. Vielleicht mehr als alles andere? In seiner Erlebnisreportage, die ihn an insgesamt acht Hot Spots der afroeuropäischen Community geführt hat, schwingt die – letztlich abstrakte – Frage einer afropäischen Identität zwar stetig mit. In der Summe geht sie allerdings unter in der Vielfalt der Lebensentwürfe, die Pitts auf seiner Reise kennenlernt respektive seinen Leserinnen und Lesern vorstellt.

Das Buch nimmt seinen Anfang in Sheffield, Pitts Heimatstadt. Das ehemalige nordenglische Stahlindustriezentrum dient den Autor sowohl als Ausgangspunkt seiner Reise als auch als Aufhänger für einen Prolog, in dem er sowohl sein Thema als auch seine biografischen Grundparameter vorstellt. Das Folgekapitel – das über die französische Hauptstadt – gibt Pitts Gelegenheit, die Unterschiedlichkeit afroeuropäischer Existenzen am Exempel zu veranschaulichen. Anlässlich einer Städtetour im feinen 16. Arrondissement trifft der Autor auf ein wohlbetuchtes afroamerikanisches Ehepaar älteren Semesters und dessen Suche nach den Pariser Spuren der Harlem Renaissance sowie deren spezifisch französischem Ableger, der Négritude. Die waren beachtlich. In Paris Zwischenstation machten nicht nur gefeierte Showstars wie Josephine Baker, sondern auch James Baldwin, Frantz Fanon und andere Theoretiker einer spezifisch afrikanischen Identät. Ganz anders – genauer: weniger nobel und glamourös – das Bild in den Afrikanerquartieren am Rand von Mont Martre. Was gemeinhin in einen Potpourri – den der »coloured« eingefärbten Identität – geworfen wird, entpuppt sich in der Praxis als lebendige Vielfalt unterschiedlichster Prägungen und auch Herkunftsländer. Neben dem »Franceafrique« – dem westafrikanischen Pendant zum britischen Afrika-Empire – spielt die Emigration aus den karibischen Ex-Kolonien eine beträchtliche Rolle. In der berüchtigten Banlieue – konkret: dem Brennpunkt Clichy-sous-Bois – zeigt sich die Ausgrenzung wie unter einem Brennglas. Bereits die öffentlichen Verkehrsmittel sind so zugeschnitten, dass Banlieue-Bewohner(innen) es möglichst schwer haben, in den Pariser Stadtkern zu gelangen.

Grundsätzlich ähnlich – wenn auch überall »divers« – sieht das Bild an den restlichen Reisestationen aus. Linke Berliner, speziell die dort aktive Antifa, werden mit den Eindrücken eines Schwarzeuropäers konfrontiert und dessen Überlegungen über unterschiedlich verteilte Privilegien. In sich hoch heterogen ist natürlich auch die schwarze Community in der deutschen Hauptstadt. Ein weiteres Sub-Thema, dass hier über den Weg des Reisenden läuft respektive von diesem aufgegriffen wird, ist die deutsch-afrikanische Rasta- und Reggae-Szene. Das Pariser und das Berliner Kapitel sind paradigmisch für die Art und Weise, wie Johnny Pitts seine Reise in Buch-Information umgesetzt hat: stets dicht, stets anschaulich und stetig mit einem locker aus dem Handgelenk geschüttelten Strauß an Informationen und Hintergründen. Auf ähnliche Weise weiter geht es mit den restlichen Stationen der Reise: Brüssel, Amsterdam, Stockholm, Moskau, Marseille und schließlich Lissabon. In all diesen zeigen sich einerseits zwar große Unterschiede – geschuldet nicht zuletzt der deutlich unterschiedlichen Geschichte (etwa mit der Auswirkung, dass die Surinamer in den Niederlande die mit Abstand stärkste afropäische Community stellen). Andererseits sind die Probleme, letztlich ein Fremdkörper zu sein respektive mit unterschiedlichen Formen von Rassismus konfrontiert zu sein, überall in Europa dieselben.

Der Inhalt ist das eine, die Form eine andere. Johnny Pitts Reise folgt zwar einem strengen geografischen Faden: von West in die Mitte, von der Mitte nach Norden, vom Norden in den eisigen Osten und von dort an die südlichen Gestade von Mittelmeer und Atlantik. Die Geschichten und die Hintergründe dazu folgen jedoch einem narrativen Muster. In dieses webt sich auch die Vorstellung der Menschen ein, denen Pitts auf seiner Reise begegnet: Künstlern, Aktivisten, der bekannten Comic-Reihe Tim & Struppi sowie einem Kolonialmuseum in Brüssel, einem – hart – gestrandeten Ex-ANC-Kämpfer in Stockholm, einen 60jährigen Backpacker aus Alessandria mit nubischen Wurzeln in Marseille. Unprominente erzählen ihre Geschichte ebenso wie Menschen, deren Ausstrahlkraft über die Black Communities des Kontinents hinausragt bis in den kulturellen Mainstream — so etwa die kongostämmige Zap-Mama-Mitgegründerin Marie Daulne und der britische Dub-Poet Linton Kwesi Johnson. Im Detail von verschiedenartigen Formen von Rassismus und Ausgrenzung geprägt sind schließlich die Länder und Städte, die Pitts im Rahmen seiner Reise aufgesucht hat. Während der Rassismus in den Niederlanden und Schweden – so Pitts Beobachtung – eher subtil daherkommt, ist die schwarze Community in Moskau von Bedrückung, Tristesse sowie Angst vor Neonazi-Angriffen geprägt.

Fazit: Als Afropäer lebt man anders in Europa denn als Einheimische. Womit das Buch am Ende an den Anfang seiner Reise zurückkehrt. Pitts im Epilog: »Sie lesen das alles als ein hübsch verpacktes kleines Paket, ein redigiertes Buch, vermutlich mit dem Foto eines halbwegs selbstsicher wirkenden Autors auf dem Umschlag. Damals jedoch, in den frühen Morgenstunden auf dem Busbahnhof Prado San Sebastián waren meine Haare verfilzt, meine Schuhe lösten sich in ihre Bestandteile auf. Ich hatte angefangen, Selbstgespräche zu führen, und meine nächtlich angefertigten Reisenotizen wurden zunehmend unverständlich.« Die Bedingungen der Recherche, so Pitts, seien bereits themenbedingt alles andere als komfortabel gewesen. Er habe Männer und Frauen getroffen, die an Stadt-Peripherien leben, zu nachtschlafender Zeit arbeiten und trotzdem gezwungen sind, ein Leben in teils surrealer Armut zu leben – teils hochgebildete Immigranten, die mit Alkoholikern, Drogensüchtigen und Kriminellen um enge Quartiere kämpfen. Lediglich die Anfälligkeit für psychische Krankheiten, die einige Berichte hervorheben, sei einer Erfahrung nach unzutreffend. Zumindest auf seiner Reise habe er fast ausnahmslos Menschen getroffen, die sich trotz widriger Umstände auch psychisch eine robuste Konstitution bewahrt hätten.

Auch ähnliche Reiseberichte, die Pitts in seinem Epilog kurz erwähnt, verdeutlichen lediglich eine Tatsache: dass nicht nur der afrikanische Blickwinkel, sondern selbst Basal-Informationen zum »dunklen Kontinent« und seiner Bevölkerungen breitenpublikumstechnisch immer noch rar gesät sind. Sicher – es gibt Ausnahmen. Lobend hervorgehoben seien an der Stelle drei Titel: Kurze Geschichte Afrikas, ein 1995 im Peter Hammer Verlag erschienener, zwischenzeitlich nur noch antiquarisch erhältlicher Historie-Basicsband, Unsere Opfer zählen nicht, ein Buch über die Rolle der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg und schließlich Kongo. Eine Geschichte – ein fulminantes, auf gar nicht so unähnliche Weise (wenn auch von einem Weißen) erzähltes Geschichtsbuch über die Historie des gleichnamigen Landes. Fazit: Sicher gibt es sie – Fachliteratur und auch Belletristik über die aktuelle Gegenwart von »People of Colour« auf dem amerikanischen Doppelkontinent oder auch in Europa. Johnny Pitts dicht erzählter Reisebericht sticht jedoch gerade wegen seiner Unmittelbarkeit und seiner tagesaktuellen Anschaulichkeit hier positiv hervor.

Leseempfehlung so: Für alle, die sich für die konkreten Abläufe von Migration und »fremd-in-Europa-Sein« interessieren, ein absolutes »Must«. Darüber hinaus: Vielleicht das beste gesellschaftspolitische Reportagebuch des Jahres.

Johnny Pitts: Afropäisch. Eine Reise durch das schwarze Europa. Suhrkamp, Berlin, September 2020, 462 Seiten, 26 Euro. ISBN 978-3-518-42941-9.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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