Richtig im falschen Leben

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Machen wir uns ehrlich: Mit dem Metier »Indierock made in Germany« steht es schon länger nicht zum Besten. Die Gründe für die Malaise sind unterschiedlich. Zum einen hat sich das Role Model des Elektrogitarre-unterlegten Oberschüler-Weltschmerzes in den letzten zwei Jahrzehnten merklich überlebt. Folge: Die oberen Plätze im Genre sind zwischenzeitlich merklich ausgedünnt. In hallenfüllender Form übriggeblieben sind im Wesentlichen Tocotronic sowie zwei, drei weitere Acts der Hamburger Schule. Den Götterolymp dieses Genres besetzen ein paar Veteranen der Generationskohorte davor – allen voran Element of Crime. Ein eher wenig beschriebener Grund für das langsame Verglühen des Indierock-Sterns: der stetige Aderlass der Szene in Richtung Singer/Songwriter – ein Weg, den vor allem die weiblichen Newcomer des Genres in zunehmender Anzahl beschreiten. Reden könnte man schließlich noch von der Konkurrenz: nicht nur vom deutschen Hip Hop, sondern auch den diversen RnB-Richtungen. Kurz zusammengefasst: Die Konkurrenzsituation hat sich fundamental geändert.

Sind solche Entwicklungen gut oder schlecht? Aus der großen Überblickswarte gesehen sind sie letztlich nichts weiter als das unaufhaltsame Weiterfließen des großen Stroms Popmusik. Weswegen wir uns auf die angenehmeren Teile dieser Entwicklung kaprizieren sollten – in dem Wissen, dass gerade die besten Bands und Musiker(innen) den vorgegebenen Stilschubladen nur bedingt gerecht werden. So auch Christopher Annen (Gitarre), Henning May (Gesang, Klavier sowie weitere Instrumente) und Severin Kantereit (Schlaginstrumente) von dem Kölner Trio AnnenMayKantereit – eine Kernbesetzung, die aktuell durch die Bassistin Sophie Chassée verstärkt wird. Ihr Debütalbum von 2013 war ein Selbstrelease. Neben dem – zwischenzeitlich zum Erfolgstück avancierten – Titel Barfuß am Klavier präsentierte er einen eigenwilligen Mix aus Eigenem und Fremden, Deutsch- und Englischsprachigem. Auch sonst war die popmusikalische Verwurzelung deutlich spürbar: Dass AMK als coverversionsfeste und gleichzeitig ortsverbundene Straßenmusikanten ihren Einstand ins Metier gaben, davon künden bis heute Dutzende von YouTube-Clips mit Platzkonzert-Momentaufnahmen der Band.

Anfänge, die durchaus helfen zu verstehen, wie die Mitglieder von AnnenMayKantereit musikalisch »ticken«. Der Bekanntheitsgrad der Band verbreiterte sich in der Folge stetig – allerdings stets in rheinisch-gemütlichem Tempo. Das erste offizielle Release war in dieser Entwicklung lediglich ein Markstein – wichtig, aber nichts, was in seiner Bedeutung überschätzt werden sollte. Seit Bandgründung sind – abhängig davon, ob man das Selbstrelease mitzählt – vier oder fünf Studioalben erschienen. Parallel steigerte die Band ihren vielseitigen Ruf durch eine Vielzahl von Sessions und Zusammenarbeiten. Stilsicher coverten sie sich dabei durch altes wie neues Material der Popmusik – von der alten Zarah-Leander-Filmschnulze Nur nicht aus Liebe weinen über Farbfilm (Nina Hagen) bis hin zu Bang Bang (Cher) oder Valerie von Amy Winehouse. Letzter Scope, siehe Clip unten: eine Einspielung des alten Suzane-Vega-Hits Tom’s Diner zusammen mit der nordrhein-westfälischen Art-Pop-Formation Giant Rooks, welche es bis auf Platz 84 der US-amerikanischen Billboard-Charts schaffte. Doch auch im heimatverbundenen Kerngeschäft blieben die drei Kölner fleißig. Seit der ersten Major-Veröffentlichung (Alles nix Konkretes; Vertigo 2016) sind drei weitere Alben erschienen: Schlagschatten (2018), 12 (2020) und nunmehr, im März dieses Jahres, Es ist Abend und ich sitze bei dir.

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Soundtechnisch hat sich seit Vorgängeralbum 12 wenig geändert. Ihre Stärken – Songs, die locker aus der Hand geschüttelt klingen, Abwechslung sowie Vielfalt bei Tempi und Instrumentierung und schließlich Henning Mays unverwechselbare tiefe Stimme – wußte die Band schon von je her souverän zur Geltung zu bringen. Was sich auf Es ist Nacht – gottseidank – verflüchtigt hat, ist die etwas depressive, vielleicht ein Tick zu selbstreflexive Grundstimmung, welche den in der Corona-Krise aufgenommenen Vorgänger prägte. Die beiden Opener der Platte – Lass es kreisen und 3 Tage am Meer – blicken demonstrativ nach vorne. Textlich wie soundtechnisch widmen sie sich dem nachzuholenden Leben nach der Pandemie. Insgesamt klingt das mehr nach grimmig ausgeführter Selbstermächtigung als nach Freude am zwanglosen Tun. Ebenfalls in die optimistische Kerbe haut Erdbeerkuchen – ein Rockschunkler, der nicht umsonst Assoziationen an einen frühen Schlager von Udo Jürgens aufkommen lässt.

Die zur Schau getragene Lebensfreude mag die Bandmitglieder zwar ehren. Zu bekannten Hochformen laufen sie in den eher reflektiven, beobachtenden und ernster gehaltenen Stücken auf. Der Liebe und den damit verbundenen Komplikationen widmen sich gleich drei Songs: das gut in den Element-of-Crime-Kosmos passende Titelstück Es ist Abend, Katharina und schließlich Du tust mir nie mehr weh – eine mit Mandoline, Gitarren und RnB-Grooves unterlegte Ballade über den Weltschmerz nach dem Ende einer Beziehung. Die besten Songs der Platte sind nicht umsonst die mit einem heimatverbundenen Kontext. Heute abend wird es regnen thematisiert die Stimmungslage eines Drogenabhängigen – geschildert aus der Beobachterperspektive eines Freundes, eines Bekannten oder eben eines Beobachters. Weißhausstraße beschreibt die Tristesse des Stadteils rund um das je nach Standpunkt berühmte oder berüchtigte Uni-Center im Süden des Kölner Zentrums. Der musikalische Nachruf auf die Kindheit im analogen Zeitalter der Neunziger – als die Post noch gelb war und Telefone Kabel hatten – kommt in ruhigem Bossa-Nova-Tempo daher. Name des Stücks: Als ich ein Kind war.

Musikalisch-thematische Redundanzen sind auf Es ist Abend ebenfalls zu finden. Bei einem Volumen von insgesamt 15 Tracks ist das zwar locker zu verschmerzen. Lottoscheine und Orangenlied etwa mögen in die ein oder andere Stimmung zwar ein paar weitere Facetten bringen. Ohne sie wäre die Veröffentlichung jedoch nicht essentiell schlechter oder ärmer. Letztes Highlight: der Schlusssong, Tommi. Mit Kölschem Einschlag dargeboten, handelt er von der persönlichen Heimat-Fernliebe der zwischenzeitlich in andere Regionen abgewanderten Bandmitglieder. Möglich, dass das Stück sich zum Renner der Platte entwickelt. Informell bereits seit 2019 zirkulierend, ist es Medienberichten zufolge derzeit eines der beliebtesten Köln-Lieder. Darüber hinaus wurde es zwischenzeitlich auch vom 1. FC Köln adaptiert – mit textlich passendem Lokalkolorit, welches Sänger Henning May passenderweise beigesteuert hatte.

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Fazit: Auch wenn ich persönlich nicht so weit gehen würde, den Vorgänger 12 als Hänger zu bezeichnen, lässt sich konstatieren: das Ende der Corona-Pandemie hat auch AMK kreativ gutgetan. Es ist Abend ist sowohl thematisch als auch musikalisch ein (fast) rundum gelungenes Album. Dass die Band ihren Weg weiter macht, wird aktuell wohl kaum jemand in Abrede stellen. Ob man den im Indie-Rock sehen möchte, noch stärker auf der Singer/Songwriter-Schiene oder mehr im chansonesken Bereich, ist dabei letztlich Anschauungssache. Nach nunmehr vier (richtigen) Alben sowie zahllosen Musikclips ist eher eines bemerkenswert: auf welch zwanglose Weise diese musikalische Quelle weiter sprudelt. Auch wenn der Begriff, siehe oben, fragwürdig ist: In der Praxis haben AnneMayKantereit sowas wie die Quadratur des Kreises geschafft – sich ins Spitzensegment eines Genres hochzuarbeiten, dessen Stern eher am Sinken ist. Aber vielleicht ist da ja Platz für drei, fünf oder vielleicht acht Positionen? Etwa in der Grobanordnung: Element of Crime bedienen (weiterhin) rockig hingeschrammeltes Songwriter-Bedürfnis der »Generation Brokdorf«, Tocotronic & Co. die Identitätsbedürfnisse von Antideutschen und Post-Autonomen – und AnneMayKantereit die der »Generation Friday for Future«.

In welcher Form auch immer: Das Bedürfnis nach Rocksongs der eher reflektierenden Sorte scheint nach wie vor vorhanden. Mit Es ist Abend haben AnnenMayKantereit diesem Segment ein paar markante neue Klänge und Texte hinzugefügt.