Zugegeben – da alle aus Wikipedia übernommenen Infos bereits abgefrühstückt sind, ist es schwer, der grünen Kanzlerkandidatin noch was Neues, Originäres anzuhängen. Die von grün nach nationalliberal abgedriftete Publizistin Vera Lengsfeld versucht es und begibt sich dabei in selbst für die causa Baerbock recht deftige Gefilde. Ihre aktuell bei achgut veröffentlichte Baerbock-Kolumne enthält alles, auf das Qualitätsmedien-Leser(innen) in der causa bislang schmerzlich verzichten mussten: ein Landesverbands-Schatzmeister, der vor rund zehn Jahren in die Parteikasse gegriffen und das Geld mit, für und möglicherweise auch auf Kosten osteuropäischer Prostituierter durchgebracht hat. Beilagen auf der Lengsfeldschen Baerbock-Schlachtplatte: gescheiterte Ambitionen, Blauäugigkeit, Betrug in großem Stil, ein geeierter Grünen-Landesverband und schließlich eine gerichtsfeste Haftstrafe.
Die Frankfurter Rundschau und die Welt hatten seinerzeit über den menschlich-allzumenschlichen Fall des gestrauchelten Partei-Kassenwartes berichtet. Neu an Lengsfelds Kolumne ist, dass sie die seinerzeitigen Landesverbands-Vorkommnisse partout Annalena Baerbock an die Backe heften möchte – quasi als Ur-Skandal, dem alle weiteren Skandale folgten. Nun sind Landesvorsitzende auch in anderen Parteien nicht unbedingt diejenigen, deren Hauptzuständigkeit die Überwachung der Landesgeschäftsstelle beziehungsweise deren Personals ist – anders wäre der Vorwurf von SED-Zentralismus und Mielke schließlich nicht weit. Konkret-demokratisch haben Parteivorsitzende auf die Einstellung, Nichteinstellung oder Entlassung von Partei-Personal einen eher überschaubaren Einfluss. Hinzu kommt: Sieht man die Sache aus der Warte von Schädiger und Geschädigten, zählt Baerbock zweifelsohne zu den letzteren.
Natürlich ist die Story – auch – ein gesellschaftliches Sittengemälde. In dem Fall war die Crux im brandenburgischen Grünen-Landesverband wohl die, dass zu viele zu gutgläubig, zu desinteressiert und (zu) spät wohl auch mit zunehmend mulmigem Gefühl zusahen. Der stramm gegen links anschreibenden Werteunionistin geht es allerdings weniger um schlechte Sitten und moralisch getönte Weckrufe als vielmehr um – Annalena Baerbock. Zusätzlich zu finden ist auf ihrer Webseite ein fiktiver, Donald Trump angedichteter Brief, in der dieser Baerbock Nachhilfeunterricht in Sachen effektiver Büchervermarktung erteilt. Nun ist Häme sicherlich nicht verboten – Kenner(innen) des medialen Tagesgeschäfts wird es allerdings wenig überraschen, dass diese Glosse nicht bei der notorisch eher Trump-freundlichen Achse des Guten zu lesen ist. Moral: Auch rechts müssen, was die Feinheiten anbelangt, die rechte und die linke Hand nicht stetig am selben Strick ziehen.
Begeben wir uns aus den Sumpfgefilden zwischen rechts und weit rechts heraus in die mediale Mitte. Weil in der causa Annalena Baerbock so unbedenklich mit doppelten Standards hantiert wird, könnte man als erstes die cui-bono-Frage stellen und fragen, wem die Demontage der grünen Spitzenkandidatin nutzt. Im konkreten Fall ist der Blick auf die Mittel allerdings zielführender. Grundsätzlich hätte die vereinigte Großmedien-Fronde schließlich auch die Option, die grüne Wahlprogrammatik argumentativ zu zerpflücken oder – umgekehrt – diejenige der Union in ein positive(re)s Licht zu rücken. Im praktischen Alltagsgeschäft jedoch sind personalierte Schlammschlachten effektiver – und fahren in Form (moderat) sinkender Umfragewerte der Grünen zwischenzeitlich die intendierten Ergebnisse ein. Schurkerei sells – und nahezu alle liefern sich seit Wochen einen Überbietungswettbewerb, wer in diesem Business die besten Skills auf Lager hat. Inhalt der medialen Non-Stop-Show: Die grüne Kanzlerkandidatin habe ihren Lebenslauf aufgehübscht, darüber hinaus eine Sonderzahlung zu spät gemeldet. Gipfel der derzeit in Endlos-Zeitschleife kolportierten Baerbock-News: ihr im Juni erschienenes Buch sei großteils aus anderen Medien abgeschrieben.
Auffällig am Komplex der gegen Baerbock erhobenen Vorwürfe ist ihre fluide, vage Form – so, als hätten alle Medien Angst, sich mit der konkreten Benennung von Ross und Reiter lächerlich zu machen. Beispiel: Lebenslauf. Aufgrund des überschaubaren Volumens wäre es hier nachgerade easy, via Gegenüberstellung von Lebenslauf / Vorher & Lebenslauf / Nachher schnell, schlüssig und rückstandsfrei belegen, bei welchen Details genau sich Baerbock in ein zu gutes Licht gerückt hat. Erstaunlich wenige Medien sind diesem Informationsanspruch indes nachgekommen – Merkur.de beispielsweise, der in einem Beitrag vom 16. Juni die beanstandeten Punkte wenigstens kurz auflistet. Bei Deutschlandfunk Kultur hingegen ging man gleich zum großflächigen Schulnotenvergeben über. Weit abseits des konkreten Anlasses gab die beim Spiegel gelandete Ex-taz Chefredakteurin Bettina Gaus zu Protokoll, sie hätte Habeck eh besser gefunden. Ein weiterer Beitrag widmet sich dem Medium Lebenslauf, ohne groß weiter Baerbocks angebliche oder tatsächliche Vergehen zu thematisieren. Hauptfrage hier: Wie viel Schummeln ist noch akzeptabel? Auch die Frankfurter Rundschau problematisiert gleich die komplette Kandidatur; der Focus indes offeriert kleinstteilige Text-Snippets als Breaking News zur causa.
So geht Kampagne. Das Schönste haben wir dabei noch gar nicht: Baerbocks Buch. Die Druckerschwärze des rund 240 Seiten dicken Ullstein-Schmökers war noch feucht, da hagelte es bereits Vorwürfe, Baerbock habe große Teile ihres Buchs abgeschrieben – möglicherweise sogar plagiiert. Der Plagiatsvorwurf wurde zwar beizeiten relativiert; der Titel sei schließlich ein populäres Sachbuch und keine Wissenschafts-Arbeit. Im Prinzip jedoch hätte hier dieselbe Vorgehensweise offengestanden wie bei den Lebenslauf-Anwürfen: Immerhin hatten es die Medien da – wenn auch von Kommentierungen, Echauffierungen sowie sonstwie flankierenden Betrachtungen in den Hintergrund gedrängt – einigermaßen unfallfrei geschafft, wenigstens die konkreten Punkte hier und da mal mitzuthematisieren. Bei Jetzt wurde es aus dem Stand omminös. Verglichen mit der Lebenslauf-Kampagne wurde zwar nochmal eine Schippe draufgelegt. In Bezug auf konkrete Kritikpunkte hielt sich die Grünen-kritische Einheitsfront der stetiglich um Qualität und Fairness bemühten Medien jedoch in geradezu auffälliger Weise zurück. Aus dem Hut gezaubert, aber erst spät – oder gar nicht – beim Namen genannt wurde »ein« (österreichischer) Plagiatsjäger, der Verwerfliches gefunden, »ein« Blogger, der kopierte Textpassagen gefunden habe und eben – eine unbestimmte Anzahl von Plagiaten, die Baerbock angeblich getätigt haben sollte.
Kurzum: die innovativ-investigativen Qualitätsmedien schlichen ähnlich verwinkelt um ihr Thema wie die Katze um den sprichwörtlichen heißen Brei. Mal hieß es, Baerbock habe aus Wikipedia abgekupfert, dann wieder wurden Zahlen gehandelt bezüglich Stellen, die abgeschrieben oder sonstwie nicht koscher wären. Wochen nach Bucherscheinen und dem dazugehörigen Alarm wurde es doch Stück um Stück konkreter. Der werte Namen des österreichischen »Plagiatsjägers« erscheint zwischenzeitlich auch in jenen Medien, die ihre Leser(innen) zuvor lieber mit allgemeinem Plagiats-Raunen abspeisten. Kurzum: Widerwillig aber immerhin haben sich die Medien zwischenzeitlich auf ihren Informationsanspruch besonnen und liefern – etwas – Butter bei die Fische. Wobei sich die nachgelieferte Butter leider als Billigmargarine mit zweifelhaftem Verfallsdatum entpuppt – und keinesfalls als die versprochene 1a-Medienbutter vom Feinsten.
Was haben wir? Angeblich »plagiiert« hat Annalena Baerbock Fakten, die nicht nur allgemein zugänglich sind, sondern in einer anderslautenden Darstellung schlicht falsch wären. So ist es nun einmal faktisch zutreffend, dass die EU-Osterweiterung – wie etwa der Tagesspiegel Baerbock mit ankreidet – mit Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien sowie den beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern getätigt wurde – und nicht etwa mit Andorra, Liechtenstein, Spitzbergen, Kanada, den Malediven, West-Bangla-Desh, Uruguay und dem Libanon. Ich bin mir sicher: Hätte Baerbock die letztgenannten Länder in ihrem Buch angeführt: der Tagesspiegel hätte es ihr – Wetten, dass? – flugs als Fehler angekreidet und die Eignungsfrage für das hohe Amt aufgeworfen. Auf ähnlich haltlose Weise zusammengezimmert ist auch der Rest der Vorwurfs-Parade, welchen die einschlägige Medien-Kamarilla – auch hier der Tagesspiegel in der ersten Reihe – gegen die grüne Kanzlerkandidatin ins Feld führt. Vorgeworfen wird Baerbock etwa, eine Zyklon-Unwetterkatastophe mit ähnlichen Worten beschrieben zu haben wie seinerzeit ein Tagesspiegel-Artikel. Der Tagesspiegel stellt die beiden Passagen sogar direkt einander gegenüber. Ergebnis: Die Fakten – ein Zyklon hat stattgefunden, so richtig erfreulich war das Ereignis nicht – sind bei Tagesspiegel und Baerbock in der Tat dieselben. Von wortgleichen Formulierungen, wie der Tagesspiegel behauptet, ist die Buch-Version allerdings deutlich weg. Wie lautet noch einmal das Goldene Gesetz der Medien? Behaupten wird man ja doch einmal dürfen.
Gute Frage: Gibt es einen Copyright-Schutz für Informationen? Etwa die, dass Chania eine Hafenstadt auf der griechischen Insel Kreta ist? Mache ich mich einer Copyright-Verletzung schuldig, wenn ich diese bei Wikipedia zu findende Auskunft an dieser Stelle wiederhole? Obwohl selbst Kampagne-Hardliner wie Welt, Focus und Tagesspiegel (bislang) keine justiziablen Konsequenzen für die spitzengrüne Buchautorin fordern, geistert der Unsinn, Infowiederholung sei etwas Unstatthaftes, seit Wochen durch den medialen Wald. Verfolgt man die Argumentationslinie bis zum bitteren Ende, wird man schnell in Absurdistan landen. Konsequent zu Ende gedacht unterlägen dann etwa tagesschau-Nachrichten strikter Geheimhaltungspflicht. Informierte X etwa ihren Freund Y über den Inhalt der Tagesschau-Nachrichten (etwa: »Du – Deutschland ist eben mit 2:0 aus dem Achtelfinale geflogen«), könnte ihr – wenn jemand drittes das mitkriegt oder der Freund sich irgendwo verplappert – deswegen eine Abmahnung ins Haus flattern. Die Info vom Spielausgang wäre schließlich – gemäß Argumentationsaufstellung der leitmedialen Baerbock-Ankläger – geistiges Eigentum der ARD. Weil sich derlei Hochprozentiges selbst den treuesten Gläubigen kaum noch vermitteln lässt, nehmen die Träger der Anti-Baerbock-Kampagne zunehmend die Verteidigungsstellung ein, juristisch sei an dem Buch vielleicht nichts zu beanstanden, im Sinn wissenschaftlichen Arbeitens – sprich: den Umgang mit Quellen – indes schon. Anders gesagt: Wenn es mit den Copyright-Vorwürfen schon nicht geklappt hat, setzen wir die Show einfach fort mit dem Thema Ethik.
Nun ist zwischenzeitlich selbst subalternen Nachrichtenredakteuren aufgefallen, dass Jetzt nicht den Anspruch erhebt, ein wissenschaftliches Werk zu sein. Eine gute Frage wäre etwa, wie vergleichbare Politiker mit der Quellenfrage in ihren Werken herumhantieren. Die Antwort: Quellenangaben in Politikerbüchern – also Angaben, woher er oder sie Behauptung X oder Y eigentlich hat – sind so selten wie die sprichwörtliche Blaue Mauritius. Beispiele: Peer Steinbrück, Das Elend der Sozialdemokratie – keine Quellenangaben. Biografien über Politiker, Beispiele Armin Laschet, Jens Spahn, Markus Söder und Ursula von der Leyen: keine Quellen, nichts, Nada; im Fall von der Leyen: ein paar wenige. Wie sieht es eigentlich bei den Vielschreibern der Zunft aus? Beispiel: Franz Müntefering. Sein brandaktueller Titel Das Jahr 2020+ ist zwar mit einigen Fußnoten versehen. Der Vorläufertitel, Älterwerden in dieser Zeit, lässt solche allerdings schmerzlich vermissen – obwohl man bei Behauptungen wie »Bürgernahe Kommunen sorgen dafür (…), dass auch ihre älteren Bürgerinnen und Bürger sich frühzeitig und immer wieder informieren können über all die Dinge in ihren Gemeinden, die für Seniorinnen und Senioren besonders wichtig sind« ganz gerne wüsste, woher der an der aktuellen Altersarmut seinerzeit wesentlich mitbeteiligte SPD-Grande das hat.
Lapidar gesprochen: Aussagen ohne Quellenangabe sind im Metier Politikerbuch allgemeiner Standard. Weswegen der Umstand, dass Annalena Baerbock das angekreidet wird, was allen anderen nicht angekreidet wird, so offensichtlich ins Auge fällt. System hat die praktizierte Doppelstandardhaftigkeit vor allem vor dem Hintergrund, dass die Union sich derzeit Brocken leistet, die zehnmal so schwer wiegen. Berichtet wird über sie jedoch nicht mal in Ansätzen derart intensiv wie über das derzeitige Thema Nummer eins. Zu erwähnen wären etwa die aktuellen Versuche des Unions-Kanzlerkandidaten, als NRW-Ministerpräsident das Versammlungsrecht in seinem Bundesland essentiell zu beschneiden. Und auch beim Gesundheitsminister braucht man nicht beim Thema Corona zu verbleiben, um Jens Spahn als erstklassigen Kahlschlagsanierer der bestehenden Gesundheitsversorgung abzuqualifizieren. Beispiel: Spahns jüngste Versuche, vermittels bürokratischer Hütchenspiele den Zugang zu psychotherapeutischen Leistungen zu erschweren. Fakt ist: Über all das wird derzeit nicht mal annähernd so ausführlich berichtet wie über Annalena Baerbocks vorgebliche oder auch wirkliche Verfehlungen.
Womit wir am Ende doch zur Cui-bono-Frage kämen. Dass die stark aufgebauschten Peanuts aus Baerbocks Schaffensvita nur der Union nützen können, ist selbst Grundschülern mühelos einsichtig. Erklärungsbedürftig ist das trotzdem – speziell vor dem Hintergrund, dass bei Teilen der Wirtschaft eine Grünen-freundliche Aufbruchsstimmung diagnostiziert wird. Konstatiert man parallel, dass das Gros der veröffentlichten Meinung im Privatbesitz von vier großen Medienunternehmen stattfindet (Springer, Bertelsmann, Burda und Holzbrinck) und addiert dazu die großteils am langen Band der Union agierenden Öffentlich-Rechtlichen, kann man nur zu einer Folgerung gelangen: dass dem Gros der publizierenden Meinungsführer selbst kleinste Veränderungen im neoliberalen Gefüge zutiefst zuwider sind. Schlussendlich frönen dieser Sorte Klasseninstinkt auch die – privatwirtschaftlich zuliefernden, also auf eigene Kappe arbeitenden – Premiumtalker wie Plasberg, Will und Maischberger. Höhere Steuern als rotes Tuch wird so sicherlich mit ein wesentlicher Grund gewesen sein, weswegen Anne Will die frischgebackene Grünen-Kandidatin in ihren Talk förmlich grillte – während schwarze Staatslenker(innen) wie etwa Angela Merkel stets mit alleräußerster Rücksichtnahme behandelt werden.
Wie tragfähig der Reformwille der Grünen am Ende ist oder ob eine solche Programmatik im Anblick von sozialer Schere und Klimaturbulenzen ausreicht, soll an dieser Stelle nicht erörtert werden. Fakt ist, dass selbst ein übermoderates Wahlprogramm wie das der Grünen die materiellen Verlustängste der Besitzstandswahrer(innen) derart zu triggern scheint, dass ihre Medien eine formidable Rufbeschädigungskampagne in die Wege leiten. Der anvisierte Königsweg der medialen Besitzstandswahrer ist dabei unschwer zu erraten: Nur mit einem gehörigen Prozent-Sicherheitsabstand zwischen Union und Grünen ist garantiert, dass die grüne Agenda nicht wirklich in die Gänge kommt.
Ad acta zu legen wäre schlussendlich das Märchen, ein erheblicher Teil des deutschen Journalismus stünde den Grünen nah. Das mag in den unteren und vielleicht sogar mittleren Rängen halbwegs so zutreffen. Geht es allerdings ans Eingemachte, gilt nach wie vor die Einschätzung eines ehemaligen, nun für die Union kandidierenden Verfassungsschützers: Links von der CDU steht der verkappte oder gar offene Kommunismus. P. s.: Annalena Baerbock und ihr Verlag haben – wie ebenfalls kolportiert – auf die Kampagne keinesfalls uneinsichtig oder trotzig reagiert. In künftigen Buchauflagen, so auch Ullstein-Sprecherin Christine Heinrich, sollen die beanstandeten Textpassagen mit Quellenhinweisen versehen werden. Die e-Book-Version soll sogar noch früher entsprechend ergänzt werden.
Was deutlich mehr ist, als die meisten anderen Beteiligten in der Beziehung jemals bewerkstelligt haben.
Kommentare 7
Das ist alles noch gar nichts im Vergleich zur Niedermachung von Bernie Sanders. Aber Frau Baerbock hat auch noch nicht sein Format. Sie hat das öffentlich bekundete Mitleid von Scholz und Seehofer wirklich verdient.
Die hier vorgetragene Medienschelte ist natürlich berechtigt. Bedenkt aber nicht, dass der Empörungseifer unserer professionellen Zeilenschinder ein unmittelbarer Reflex auf die "sozialen" Medien ist. Dort wird solches Verrohungsfutter dringend benötigt und der Journalismus liefert es bereitwillig ab. Damit fühlen sie sich dann relevant und sind stolz auf ihre Reichweite. Man bräuchte deshalb zur Ergänzung der Betrachtung einen Blick auf twitter, facebook und die anderen Sumpflandschaften.
Ich glaube nicht, dass diese Wechselwirkung auf diese Weise gegeben ist. Zum einen gab es Schmutzkampagnen bereits lange vor der Erfindung des Internets. Darüber hinaus ist es doch eher so, dass alle Etablierten derzeit mehr oder weniger Front machen gegen die – oft rechts bis stark rechts durchwirkten – Schmuddelsektoren im Web. Außerdem glaube ich nicht, dass dort groß Qualitätsmedien-Leser(innen) in spe abzuholen sind – ein Umstand, der in den Redaktionen durchaus bewusst ist.
Zustimmen würde ich dem Aspekt, dass die personalisierte Kampagne gegen Baerbock durchaus mit Seitenblick auf ebenjene Sektoren und Randbereiche angestoßen wurde. Ohne den zumindest Ellbogenchauvinismus Marke BILD kann die Union den Rest nicht so deutlich abhängen, wie es aus Sicht der Kampagnen-Initiatoren erforderlich ist. Übrigens ein Aspekt, mit dem Robert Habeck exakt genauso konfrontiert wäre – gesetzt den nicht auszuschließenden Fall, die Grünen wechseln doch noch ein. Die erste Frage in der Never Ending Will Show wäre in dem Fall: »Herr Habeck – wie fühlt man sich so als Notlösung?«
Was soll man groß schreiben? In Sachen personalisierter Politikerdemontage hat speziell das vorherrschende Qualitätsmedien-Kartell eine eingespielte Tradition – angefangen mit Wulf über Beck bis hin zu Martin Schulz. Marktchancen gäbe es vielleicht noch für ein reines Info-Medium – also eines, dass lediglich die Meldungen der Nachrichtenagenturen etwas redaktionell siebt und auf den ganzen gängigerweise darauf aufgesetzten Spin- und Kampagnenjournalismus verzichtet.
Dem würde ich nicht widersprechen.
Zugang zu den "sozialen" Medien habe ich nicht, aber in den mainstream-Medien lieferten die zahlreichen Leserkommentare einen guten Eindruck davon, was auch dort wohl los war. Und die großen Tages- und Wochenzeitungen haben offenkundig gerade wegen dieser Resonanz gerne noch mehr geliefert und draufgelegt. Macht ja auch nicht viel Arbeit. Leider sind die Grünen nicht ganz unschuldig an der Herausbildung dieser moralischen Spießerkultur, die sich um materielle gesellschaftliche Konflikte nicht mehr schert.
Die Grünen hätten das sicher vermeiden können, wenn sie die professionelle Politikkarriere ihrer Spitzenfunktionärin nicht akademisch getarnt hätten. Jetzt haben sie ja noch den Habeck.
»Zugang zu den "sozialen" Medien habe ich nicht, (…)«
Ich glaube, mit einem gewissen Sicherheitsabstand ist man da ganz gut bedient ;-).
»(…) Jetzt haben sie ja noch den Habeck.«
Wie gesagt – Einwechselung halte ich nicht für ausgeschlossen. Allerdings würde es den Grünen aller Voraussicht nach wenig bringen: Die Kampagne würde fortgesetzt – nur eben mit einer anderen Person. Die Grundintention ist nun mal a) die Grünen so weich zu kloppen, dass im Fall einer Koalitionsbeteiligung nicht viel kommt, b) zu diesem Zweck einen deutlichen »Sicherheitskordon« zur Union zu generieren.
Ob die Figur, die da unter Attacke genommen wird, Schulz heißt, Müller oder Baerbock, ist dabei ziemlich gleich.
Die Argumente im taz-Artikel von Silke Mertins sind schwer widerlegbar. Ergo auch die daraus abgeleitete Folgerung, dass die Grünen sich dieses Ei selbst gelegt haben. Trotzdem halte ich AB nicht für den Rohrkrepierer, als den sie nunmehr einige hinstellen wollen. Sicherlich – Baerbock hat Fehler; wer in den Sphären hat die nicht? Möglich auch, dass sie an der personalisierten Kampagne, die gegen sie angezettelt wurde, letztlich gescheitert ist. Ebenso möglich, dass das einem Habeck nicht passiert wäre. Ich persönlich bin der Meinung, dass der spezifische Mix aus Stärken und Schwächen JEDEM Kandidaten auf der Linken anhaftet (im anderen Lager geht es rein um Geld; da nimmt die charakterliche Bewertung einen anderen Stellenwert ein).
Meiner Meinung nach heißt dies: Unter den Bedingungen eines einigermaßen INHALTLICH geführten Wahlkampfs wäre der Unterschied zwischen Baerbock und Habeck sekundär. NICHT sekundär wäre er in meinen Augen in den Fall, wenn damit eine deutliche politische Richtungsentscheidung verbunden wäre. Eine solche (deutlicher in Richtung Neoliberalismus gehende) Richtungsentscheidung wäre etwa die Kandidatur von Kretschmann oder auch dem Hessen Al Wazir gewesen.
Anders gesagt: Annalena hätte sie (die rechten Schmutzfinken) alle plattmachen sollen. Nun haben wir eine angezählte Kandidatin – so weit, so schlecht. Ob es für die Grüne das Beste ist zu wechseln, weiß ich nicht. Zumal der laufenden Anti-Grünen-Kampagne das Gesicht an der Spitze herzlich egal sein dürfte.
Habek als 2. Wahl? Es wäre nicht sehr clever, wenn er das auf sich nehmen würde. Würde mittlerweile auch sicher nicht zu den Ergebnissen führen die man sich erhofft.
»Das Problem sehe ich tatsächlich weniger in ihren Fehlern als in ihrer Eignung. (…) Sie ist sehr jung, bringt keine Erfahrung mit und hat versucht, größer zu erscheinen, als sie ist. Definitiv kein Kanzlermaterial.«
Okay – an ihren Fehlern gibt es wenig herumzudeuteln. Ich will noch nicht einmal darauf herumharken, dass der Drang zum sich Über-Gebühr-Aufplustern nachgerade wesensbildend war für ein spektakuläres Beispiel der jüngsten Geschichte. Speziell Baerbocks Hauptkonkurrent ist darüber hinaus das Paradebeispiel für Anti-Integrität. Nun könnte man natürlich sagen: ABER DIE GRÜÜÜNEN – die haben die doch gepachtet. Wenn man DIE Latte nimmt, wird die Linke vor der Wiedergeburt von Che oder, noch besser, Karl nie wieder eine Führungsperson von Kaliber haben.
Um meine PERSÖNLICHEN Kriterien zu verdeutlichen: Ich mache den Pi-mal-Daumen-Check, ob Partei X mit ihrem Spitzenpersonal grosso modo ernsthafte Versuche unternehmen wird, die parteieigene Programmatik umzusetzen (als zweites nehme ich dann noch die Realisierungschancen insgesamt). Sicher – Baerbock hat sicher nicht das Format von exponiert linken Leuten wie etwa Ada Colau (Barcelona) oder Anne Hidalgo (Paris). Persönlich jedoch sah zumindest ich keinen Grund, anderes anzunehmen als dass die Frau ihre Partei angemessen repräsentiert. Zumal die zündenden Redner und Buchschreiber auch beim Spitzenpersonal der Linkspartei nicht gerade dicht gesät sind.
Nunja – nun ist es, wie es ist. Vielleicht kommt aber auch die große Wende – wer weiß?