Aufhäng-Plakate und Pimmelgates

Justiz Maximale gesetzliche Härte wegen eines laxen Twitter-Kommentars, höchstrichterliches Placet für ein Mordaufruf-Wahlplakat: die Justiz im Hohldreh-Modus

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Mudauer Galgen. Die letzte Hinrichtung hier wurde 1760 vollzogen. Grund: Hühnerdiebstahl
Mudauer Galgen. Die letzte Hinrichtung hier wurde 1760 vollzogen. Grund: Hühnerdiebstahl

Foto: Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Welche Ansichten sind in Deutschland noch möglich, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten? Vermutlich wird die Auswahl mit jedem Tag enger. Ein Twitter-Kommentar mit dem Inhalt »Du bist so 1 Pimmel« hat für den Absender stark unliebsame Folgen gehabt: Ein mit Durchsuchungsbeschluss versehenes Aufgebot der Hamburger Polizei durchsuchte frühmorgens die Wohnung seiner Ex-Freundin und beschlagnahmte dabei Twitter-absendfähiges Elektronik-Equipment. Auslöser der Aktion: kein Nobody, sondern Betroffener und Dienstherr in einer Person: Hamburgs Innensenator Andy Grote. Was in Hamburg existenzielle Folgen nach sich ziehen kann, winkte das Landgericht im sächsischen Chemnitz am 14. September durch: Die Wahlplakate der rechtsextremen Splitterpartei Der Dritte Weg mit dem Slogan »Hängt die Grünen!« dürfen nunmehr, nunja: aufgehängt werden – oder auch aufgehängt bleiben. Eine gegenteilige Verfügung der Stadt Zwickau wurde so (erstmal) außer Kraft gesetzt. Lediglich in einem Detail setzte das Gericht den Rechtsextremen Grenzen: Die Aufrufe zu politisch-mortaler Selbstjustiz dürfen – immerhin – nicht in der Nähe grüner Plakate aufgehängt werden. In salomonischer Weisheit wurde ein Sicherheitsabstand von 100 Metern mitverfügt.

»Pimmel« – no, »Hängen« – ja gerne, aber nur mit 100 Meter Abstand: Zumindest beim netzaffinen Teil der Untertanen und Untertäninnen stoßen die beiden Justiz-Wegentscheidungen derzeit eher wenig auf Verständnis. Nicht nur das: Angesichts der Nonchalance, mit der manche Staatsanwälte und Richter mittlerweile selbst Restspuren von Verhältnismäßigkeit vom Schreibtisch schnipsen, brennt seit Mitte vergangener Woche das Internet. Unter Hashtags wie #pimmelgate, #haengtdiegruenen und #mordaufruf bricht sich die Empörung derjenigen Bahn, die das Ganze nicht mehr angemessen oder auch nur halbwegs verhältnismäßig finden, andererseits jedoch in der Politik keinen Andockpoint mehr finden, um ihre Sicht der Dinge einzubringen. Zumal beide Justizaktionen Vorgeschichten haben, welche das jeweilige Justizverhalten noch erklärungsbedürftiger machen. Auslöser des salopp-lapidaren Penis-Kommentars war eine polizeilich aufgelöste Spontanparty auf der Hamburger Schanze. Innensenator Grote spendete der Polizei auf seinem Twitter-Account Beifall und garnierte das Ganze mit harschen Ansagen an die Corona-vergessenen Partyteilnehmer. Hintergrund allerdings: Im Jahr zuvor war Grote selbst – anlässlich einer in einem Hamburger Restaurant ausgerichteten Ernennungsfeier – ob seines Sich-Hinwegsetzens über die seinerzeitigen Corona-Kontaktbeschränkungen in die Kritik geraten. Entsprechend war durchaus Anlass gegeben, dem Innensenator mit dem Umstand zu konfrontieren, dass derjenige besser nicht mit Steinen wirft, der selbst im Glashaus sitzt.

Dass einige gleicher zu sein scheinen als der Rest, zeigten die Folgeereignisse. Nachdem ein Polizist den Pimmel-Kommentar den Ermittlungsbehörden zur Kenntnis gebracht hatte, stellte Grote Strafanzeige. Ob die rabiate Verfolgung auf Wink von oben erfolgte und es Grote womöglich gar um ein zu statuierendes Exempel ging, muss notgedrungen Spekulation bleiben. Die Kombination aus Dienstherr und Vorzugsbehandlung von Grotes Anzeige indess hinterlässt so oder so ein Ungehagen, das sich mit dem altschwäbischen Begriff »Geschmäckle« nur unzureichend charakterisieren lässt. Zumal der Kommentar-Poster – ein eine Nachbarschaftskneipe unterhaltender St.-Pauli-Fan – sich bei der Polizei bereits gestellt und die Kommentar-Urheberschaft soweit zugegeben hatte. Das Motto »(maximale) Strafe muß sein« perpetuierte sich auch bei der Ausführung der Durchsuchung fort. Nach Beweismaterial durchsucht wurde die Wohnung der Ex-Freundin des bereits Geständigen, die mit Glück sagen kann, dass die beiden im Haushalt lebenden Kinder zum Zeitpunkt der Durchsuchung gerade nicht anwesend waren.

Das Noch-Sagbare und das definitiv nicht mehr Sagbare

Während sich »Pimmelgate« mittlerweile zu einem viralen Streisand-Effekt ausgewachsen hat, ist der sächsische Mordplakat-Entscheid auf eine fast archaische Weise unterkomplex. Man liegt sicher nicht falsch, wenn man annimmt, dass der Chemnitzer Richterbeschluss exakt das erreicht hat, was er erreichen wollte: das politische Betätigungsfeld der Rechtsextremen ausweiten. Das ist gelungen. Die sächsische Zivilgesellschaft wurde justiziell erneut empfindlich – man kann fast sagen: dramatisch – gedeckelt: Gerade auch im Anblick des Umstands, dass die Stadt Zwickau und ihre parteilose Bürgermeisterin alles in ihrer Macht Stehende unternommen haben, die kaum camouflierten Mordaufruf-Plakate der rechtsextremen Splitterpartei aus dem Verkehr zu ziehen. Nicht nur das: In die Suppe gespuckt hat der Zwickauer Verwaltung ausgerechnet ein Gericht aus ebenjener Stadt, die vor gerade mal drei Jahren der Schauplatz republikweit mit Entsetzen beobachteter Real-Life-Menschenjagden war.

Sicher – der Abstand zwischen der weltläufigen Metropole Hamburg und dem großflächig braun eingefärbten Sachsen beträgt mehrere hundert Kilometer. Ungeachtet dieses »Sicherheitsabstands« und ungeachtet der Tatsache, dass im einen Fall (übermäßig) verfolgt wurde und im anderen nicht, weisen beide Justizskandale eine Reihe Parallelen auf. Die schlechte Nachricht: alle stimmen auf das höchste besorgniserregend. Zunächst ist da der zeitliche Background: Beide Vorkommnisse liegen zeitlich nah beieinander. Zudem geht es bei beiden – oberflächlich – um das Sagbare, Noch-Sagbare und definitiv nicht mehr Sagbare. Hinzu kommt, auch wenn man zumindest in Hamburg darüber lieber nobel schweigt: In beiden Fällen macht eine pro-rechte respektive anti-linke Vorgehensweise nachgerade den Wesenskern aus. Ins Auge fallen allerdings auch jene Komponenten, die auf den ersten Blick deutlich differieren – und so den Eindruck nahelegen, das eine und das andere hätten nichts miteinander zu tun. Maximale Repression hier – richterliches Placet für zur Selbstjustiz auffordernde Plakate da: In der Summe ergibt das eine Konstellation, die nicht einmal via Bundespräsidenten-Ansprache zur Hauptsendezeit vermittelbar wäre: speziell die Mär, dass die befassten Ermittlungs- und Justizstellen ausgewogen und mit Blick auf eine demokratisch-zivilgesellschaftliche Gesamtlinie agiert hätten.

Basal unterscheiden sich »Causa Penis« und »Causa Mordaufruf« lediglich in einem Punkt. Im ersten Fall wurde der Repressionsapparat von Protagonisten in Gang gesetzt, die sich der liberal-gutbürgerlichen Hamburger Gesellschaft zugehörig fühlen. Der Freifahrtsschein für rechtsextreme Mordaufrufe wiederum kam nicht nur aus einem Bundesland, dass viele Demokrat(inn)en bereits aufgegeben haben – Sachsen mit seinem seit Jahrzehnten bereits schwärenden Polit-Einheitsmix aus Schwarz, Blau und Braun. Mit den Grünen werden exakt jene unversehends in den »Vogelfrei«-Status katapultiert, die sich vor Ort besonders wahrnehmbar für zivilgesellschaftliche Minimals einsetzen und somit die Antipod(inn)en zum Modell »Volksgemeinschafts-Staat« bilden. Frei nach »Lehrbuch Fall Lübcke«: Sollte irgendein »Einzeltäter« auf die Idee kommen, die gerichtlich nunmehr freigegebenen Mordaufrufe physisch in die Tat umzusetzen, wäre wohl nicht nur Sachsen, sondern die komplette Bundesrepublik nicht mehr weit entfernt von jenen Zuständen, die man anlässlich der Trump-Abwahl mit Entsetzen beobachtete.

Aufschlussreich ist darüber hinaus der Umgang mit den beiden Fällen seitens der berichtenden Großmedien. Im Fall #pimmelgate hat zumindest das Gros davon die anfälligen Fragen aufgeworfen – speziell die nach der Verhältnismäßigkeit. Neben taz und SPON gingen auch die beiden Springer-Flaggschiffe Welt und BILD sichtlich auf Distanz zu den Grotes High-Noon-Gebahren. Keine Probleme mit fehlender politischer Entscheidungsträger-Distanz hatte hingegen der NDR. Vermitttels einer ganzen Batterie von Berichten, Features und Interviews – nachzulesen hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier – stützte die in Hamburg ansässige Ö/R-Anstalt die Hardliner-Position des Innensenators. Allgemeines Framing dabei: Man müsse auch die kleinsten Übergrifflichkeiten im Netz verfolgen, um der grassierenden Hate Speach Herr zu werden. Im Fall Renate Künast, wo der aktuelle juristische Stand der ist, dass selbst allerübelste Schublade im Sinn der Meinungsfreiheit hinzunehmen ist, mag diese Form politischer Sensibilität gewiss angebracht sein. Wenn allerdings NDR-Redakteure wie Daniel Kaiser Hausdurchsuchung-miterlebende Kids als hinzunehmenden Kollateralschaden hinstellen, bei dem letztere immerhin hautnah mitbekämen, wie problematisch das Rechtsverständnis ihrer Erzieher(innen) sei, rücken Hamburger und sächsische Verhältnisse plötzlich nah zusammen. O-Ton Kaiser: »So funktioniert eben der Rechtstaat. Die Familie hat sich ja beschwert, die Polizei sei in einen Haushalt mit Kindern gekommen. Viel problematischer finde ich, dass in diesem Haushalt so ein Umgang vorgelebt wird. Ich meine, man darf hier nicht verwechseln, wer der Täter und wer das Opfer ist.«

(Zu) enge Anbindung an die Schlaufen und Winkelzüge der jeweils an der Macht Befindlichen gibt es nicht nur bei den hanseatischen Öffentlich-Rechtlichen. Dem aktuellen Sachsenschlag aus Chemnitz flankierte das ZDF mit einem fein ausbalancierten Erklärartikel, der den Gebührenzahler(inne)n lang und breit erklärt, was bei einem gerichtsbeständigen Aufruf zum Hängen zu beachten ist. Auch hier geht es weniger darum, dass die Redaktion von zdfheute.de die Hintergrunddetails darlegt. Zu kritisieren ist vielmehr die Absicht, selbst im Anblick eines megakarätigen rechten Durchbruchs zur Tagesordnung zurückzukehren und die so legalisierte Hetze als Teil einer üblichen demokratischen Auseinandersetzung zu verharmlosen. Mit verschlimmert schließlich wird diese Lage durch die Glattbügel-Versuche der involvierten politischen Entscheidungsträger – etwa in der Form, dass der Hamburger Senat sich in der »Pimmelgate«-Causa geschlossen hinter ebenjenen Innensenator gestellt hat, der seinen Vorgänger Ronald Schill offenbar als leuchtendes Vorbild betrachtet. Mit dabei beim Placet für die außer Rand und Band geratene, sicher nicht mehr als verhältnismäßig anzusehende Aktion gegen eine Einzelperson: die Hamburger Grünen: Mitglieder eben jener Partei, die – plakattechnisch zumindest – fast zeitgleich zum Abschuss freigegeben wurde.

Einen bedeutenden Unterschied zwischen »Pimmelgate« und »Hängt die Grünen!« gibt es am Ende doch: den Klassenkampf von oben nach unten. Beim Chemnitzer Sachsengate kommt dieser Aspekt wenig zum Tragen. Der sich am gesunden Volksempfinden orientierende Teil der Bevölkerung sowie ihre politischen Buddies wollen die Grünen lediglich als Fremdkörper imprägnieren, sie aus der politischen Arena (und eventuell auch aus dem Bundesland) hinausdrängen. Bei »Pimmelgate« hingegen ist die Lust, endlich mal gegen die prekären Klassen Kante zu zeigen, ein nicht zu übersehendes Moment. Bezeichnenderweise ist es hier ein Sozialdemokrat von rechten Parteiflügel, der sich diesbezüglich besonders exponiert. Man liegt sicher nicht falsch, wenn man die Sache – auch – als Konfliktaustragungsform betrachtet zwischen sozialdemokratischem Aufsteigermilieu Marke Schröder und dem zwischenzeitlich prekarisierten Teil der Parteibasis. Das informelle »Du« sowie die Annahme, dass auch Spitzengenossen die informelle Klartext-Sprache der Basis sowohl verstehen als auch zu parieren vermögen, kommt hier zunächst zur Anwendung, wird von der Gegenseite allerdings umgehend in einen Akt der Strafverfolgung umgemünzt. Informell wollte Twitter-User ZooStPauli dem »Andy« eigentlich mitteilen, dass es unredlich ist, ein Vergehen, dass man selbst begangen hat, bei anderen über Gebühr zu kritisieren. Die Tragik bei dem Ganzen ist, dass er mit der in sozialdemokratischen Traditionshorten üblichen Sprache fast zwangsläufig Schiffbruch erlitt und für diesen Irrtum – Ex-Freundin und Kinder eingeschlossen – nunmehr die Konsequenzen tragen muß. Anders gesagt: Deutlicher als Andy Grote kann man die Botschaft kaum formulieren, dass die Sozialdemokratie mit ihrer alten Klientschaft nichts mehr zu schaffen haben möchte.

Fazit: Die einen wollen wirklich jede nicht ganz stubenreine Lebensäußerung mit harschen Repressalien überziehen, die anderen eben aufknüpfen und sonst Dinge tun, die das gesunde Volksempfinden gern tun würde, wenn man es denn machen ließe. Dass sich im konkreten Fall beide Attacken vorwiegend gegen links richten, macht die Gemengelage im Grunde noch brisanter. Wenn die juristische Verhältnismäßigkeit politischer Zweckinkrementalität weicht, sind Verhältnisse wie in Weimar nicht mehr fern. Möglich, dass auch das Bild des furchtbaren Juristen langsam wieder seine Gewöhnungsansprüche einfordert. Politisch nicht auszuschließen, dass wir auf dem besten Weg sind hinein in postdemokratische Zustände, wo Doppelstandards gelten, frei nach Orwell mit dem Motto: Im Prinzip sind zwar alle gleich, einige jedoch ein Stück gleicher. Möglich aber auch, dass wir in eine gesellschaftliche Kultur hinüberswitchen, in der sich zwei Lifestyles in Ausschließlichkeitsform gegenüberstehen: Klosterschülerpensionat hier, Verbrecherspelunke da.

Auch wenn die Bevölkerungsmehrheit sich notgedrungen wohl mit dem Pensionat abfinden würde: Grund für politischen Optimismus bietet diese Zukunftsvorstellung nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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