Stern-Explosion, Katharsis oder einfach: Reformprogrammatik adé? Die grünen Eruptionen an der Saar
Zugegeben: Am Zustand der Saar-Grünen gibt es wenig zu beschönigen. Der Zug irrlichterte schon lange durch die idyllischen Auen und Kleinstädtlein im Südwest-Bundesland – nun ist er mit einem schallernden Krachen entgleist. Zu beschönigen gibt es auch deshalb nichts, weil der Crash der Saar-Grünen ein Crash mit langer – genauer gesagt: jahrzehntelanger – Ansage war. Anders nämlich als es die Showdown-fixierte Berichterstattung der großen Medien nahe legt, nahm der Chaos-Zug nicht erst auf jenem omminösen Landesparteitag im Juni seinen Anfang, bei den der in den Ring zurückgekehrte Ex-Landeschef Hubert Ulrich eben zurückkehrte – und, nachdem die kandidierende Damenwelt abstimmtechnisch durchgerattert war, von den Delegierten des Landesparteitags prompt auf Listenplatz eins gesetzt wurde. Wenn man böse wäre, könnte man vermuten: Frauenstatute und ähnliches Gedöhns sind bei einem Großteil der Saar-Grünen dort ausgelegt, wo es für fünf Minuten zeitvertreibender Lektüre bedarf.
Was seither geschah, ist hinreichend berichtet. Um fair zu bleiben: Der dauermalade Zustand des Landesverbands wurde ebenfalls berichtet – in der Summe durchaus auf eine Weise, die sich mit dem Abjektiv »hinreichend« bezeichnen lässt. Nur ist Medienberichterstattung eher wenig auf Langzeitgedächtnisse ausgelegt, auf Szenarien, Entwicklungen und Ereignis-Chronologien. Weil die Grünen in diesem 2021er-Wahlkampf nunmal als Haupt-Sorgenkind ausgemacht sind, entfaltet sich die verkürzte Berichterstattung über die Saar-Ereignisse derzeit fast im Automatik-Modus. Unversehends avancieren so die Saar-Hiobsbotschaften zu einem weiteren Teil-Strick, welchen die auf Unions-Kurs befindlichen Großmedien in den Strick um den Hals der in Umfragen weiterhin ungebührlich hoch angesiedelten Partei einweben. Im Klartext: Glaubt man dem Grundtenor der aktuellen Berichterstattung, tragen Annalena Baerbock und die Grünen IMMER Schuld – selbst dann, wenn in China ein Sack Reis umfällt *, ein Foto ungebührlich beschnitten wird, besorgte Mails verschickt werden (etwas, was bekanntlich ausschließlich grüne Spitzenpolitiker:innen tun) oder die Partei schließlich, wie im Exempel Saarland, beherzt versucht, einen nicht ursächlich auf ihrem Mist gewachsenen Fehler zu korrigieren.
Im Anblick der Tatsache, dass zwei Hinterzimmergremien, von denen sonst kaum jemand Notiz nimmt, der derzeit stimmenstärksten Oppositionspartei eine komplette Landesliste, Pardon, unterm Hintern wegcanceln (wenn auch im Finale mit den Gegenstimmen der beiden Beisitzer von SPD und Linkspartei sowie zwei Enthaltungen), ist die Frage »Haben die Bundes-Grünen zu spät reagiert?« im Grunde dritt- bis viertrangig. Gerade weil sie in der aktuellen Fehleranalyse in den Hintergrund zu rücken drohen, sind die saarländischen Verhältnisse erklärungsbedürftig. Das Fiasko der Saar-Grünen begann nicht mit einem Landesparteitag 2021, der – wie zu jeder Bundestagswahl – die Wahlliste für die Zweitstimmen aufstellte. Der ursächliche Beginn ist vielleicht gar bereits in den Achtzigern anzusetzen – zu jenem Zeitpunkt, als der aus Saarlouis stammende Werkzeugmacher Hubert Ulrich der Partei beitrat und damit begann, seinen Ortsverband in einem Ausmaß mit Grünen-Mitgliedern zu befüllen, dass es selbst kreuzbrav-bürgerlichen Berichterstattern bald schummrig wurde. Die Zahlen: Mit unterschiedlichen Angaben zufolge 400 bis 800 Mitgliedern verfügte der Ortsverband des Mittelzentrums Saarlouis mit seinen 32.000 Einwohnern bald über ein Parteimitglieder-Volumen, das selbst das von Großstädten wie Köln oder Frankfurt am Main überstieg – saarländische Verhältnisse, die der Spiegel 1999 eher mit dem Begriff »albanisch« für auf den Punkt gebracht hielt.
Immerhin: zumindest die grünennahe taz berichtete – wie hier, hier und hier – regelmäßig über die innerparteilichen Demokratie-Defizite. Die Grünen – sogar die im Land – wollten es, so der Spiegel, prüfen. Sie scheiterten allerdings an den von Ulrich und seinen Getreuen dominierten Landesverbands-Institutionen. Für den Verdacht von Schein-Mitgliedschaften, von Karteileichen, Mitgliedschaften gegen Gefälligkeit und ähnliches gibt es zahlreiche Indizien – unter anderem die parteiseitig gestartete, bald aber unterbundene Umfrage, von der der Spiegel berichtete. Doch es kam noch schlimmer. Entgegen zuvor gegebenen Wahlversprechen führte Ulrich den von ihm dominierten Landesverband 2009 in eine Jamaika-Koalition. – obwohl eine RRG-Koalition rechnerisch möglich war und mit Heiko Maas (SPD) ein Partner zur Verfügung stand, der nicht unbedingt für den geraden Weg in sozialistische Verhältnisse steht. Mit am Verhandlungstisch: ein FDP-naher Unternehmer, zu dem Ulrich in einem Arbeitnehmer-Verhältnis stand. Auch sonst lieferten die Saar-Grünen stetig Achterbahn. Ein enger Vertrauter Ulrichs ließ in einem Baumarkt drei Badematten mitgehen – was den saarländischen Ulrich-Grünen ihren ersten veritablen Skandal bescherte. Der Ulrich-Vertraute wechselte später quasi via Heirat quasi zur politischen Konkurrenz – wobei die Geehelichte , der der Ulrich-Vertraute nunmehr beratend zur Seite stand, 2007 von den Grünen zur Linkspartei übertrat und dort seither als enge Vertraute von Oskar Lafontaine gilt.
Umgangssprachlich könnte man ein an der Saar sehr beliebtes Bonmot anwenden und konstatieren, dass es in der Landespartei drunter und drüber geht. Zum Bild passt, dass der Fraktionsvorsitzende der saarländischen AfD, Josef Dörr, fast 20 Jahre Mitglied der Saar-Grünen war und während dieser Zeit als Kreisvorsitzender beim Partei-Regionalverband Saarbrücken-Land sowie als Landesschatzmeister fungierte. Doch ist das nicht alles Schnee von gestern? Nicht ganz. Die von »General Hubert« installierten Verhältnisse – ein System übrigens, dass ein Zeit-Beitrag 2009 mit denen der CDU unter Kohl verglich – bestimmen die Kräfteverhältnisse im Landesverband bis heute. Grob vereinfacht sieht die Grünen-Kartografie an der Saar etwa wie folgt aus: Neben dem mitgliedergeboosteten Ortsverband Saarlouis verfügt Ulrich über starke Gefolgschaften in »seinem« Kreisverband sowie dem in der entgegengesetzten Saarland-Ecke gelegenen Kreisverbands Homburg. Domäne der Nicht-Ulrich-Grünen hingegen – das Sprichwort »Stadtluft macht frei« kommt einem da in den Sinn – ist vor allem der Saarbrücker Ortsverband. Funktionsträger(innen), welche nicht dem Ulrich-Lager angehören, sind hinaus in den restlichen Kreisverbänden in verstärkter Dichte vorzufinden.
In der Summe ist es ebendiese Melange aus in Szene gesetzter Dominanz und Strippenzieherei, welche zum Crash auf dem Landesparteitag geführt hat und in dessen Vor- und Nachbeben zum Rücktritt des kompletten Landesvorstands. Was die – in den Medien derzeit prominent berichtete und so in den Vordergrund gerückte – Intervention des RP-Landesschiedsgerichts sowie des Bundesschiedsgerichts betrifft, ist auch hier zu sagen: Die Intervention fand keinesfalls anlassbefreit statt oder etwa deswegen, weil ein Verband auf Kurs gebracht werden sollte. Anlass für den letztlichen Ausschluss der Saarlouiser Delegierten war der Umstand, dass auch die im Vorfeld stattgefundene und auf dem Dach eines Parkauses ausgerichtete Saarlouiser Mitgliederversammlung von Ulrich-Leuten wohl ad hoc aus dem Boden gestampft worden war und so den Mindestanforderungen an eine ordentliche Parteiversammlung nicht entsprach: selbst dann nicht, wenn man die Dominanz des hochgeboosteten Ortsverbands, der notorisch ein Drittel der Landesdelegierten (!!) stellt, als gegeben und letztlich unabänderlich hinnimmt.
Fazit: Bundespartei sowie beauftragte Schiedsgerichte haben im Anblick der eskalierten Lage nicht nur versucht, in einem irrlichternden Landesverband wieder sowas wie normale Regularien einzuziehen. Darüber hinaus haben sie dafür Sorge getragen, dass die von Ulrich und Anhängern an den Rand gedrängte Rest-Landespartei überhaupt wieder in den Zustand kam, politisch agieren zu können. Letztlich wird man den Rettungsversuch wohl als in der Praxis gescheitert bewerten müssen. Womit sich bis zum bitteren End-Pünktlein die Beobachtung bewahrheitet, dass dort, wo eine Person zu grandios und überragend wird, der Rest der vielen anderen über kurz oder lang zu Nullen mutiert, zu bedeutungslosen Niemanden. Bis es eben kracht. Gut möglich so oder sogar wahrscheinlich, das die Saar-Grünen ihre Stunde Null wieder durchmachen müssen: eventuell mit der Neugründung eines grünen Landesverbands, der sich im Anschluss der Bundespartei Bündnis 90/Die Grünen anschließt.
An einem Restart der saarländischen Grünen von Grund auf mag mittelfristig zwar kaum ein Weg vorbeiführen. Aktuell, in Bezug auf die Bundestagswahl allerdings ist das Kind in den Brunnen gefallen. Fact ist, dass die saarländischen Wählerinnen und Wähler mit eingeschränkten Wahloptionen Vorlieb nehmen müssen. Konkret: das Kreuz bei »Grün« ist im Saarland nicht möglich. Womit wir flugs bei der Frage angelangt wären, ob wir uns noch in Bereichen bürokratiejuristisch begründeter Obrigkeitsentscheidungen befinden oder bereits in denen systemischer – also postdemokratischer – Wahleinschränkung. Bezeichnend ist erst mal die Nonchalance, mit der die großen Medien über die Nichtzulassung der Grünen-Landesliste hinweggehen. Es sei – so der Tenor auch in der sonst den Grünen nicht gänzlich abgeneigten Süddeutschen Zeitung – schließlich nur eine Angelegenheit von wenigen Prozentpunkten hinter dem Komma. Ergo: Alles nicht so schlimmm – bitte weitergehen, und die Grünen haben es schließlich selbst ver(baer?)bockt.
Gut möglich, dass die Nichtzulassung der grünen Landesliste denen Nachklapp-technisch um die Ohren geschlagen wird, die mit eingeschränkten Mitteln dafür sorgen wollten, dass alles doch noch (halbwegs) seine Richtigkeit hat. Wer den Bundestagswahlkampf 2021 aufmerksam beobachtet, wird unschwer feststellen, dass die gegen die Grünen gefahrene Kampagne sehr viel Ähnlichkeit hat mit der Art und Weise, wie 2017 der Schulz-Zug zum Entgleisen gebracht wurde. Auch 2017 signalisierte eine Partei – die SPD mit ihrem Kandidaten Martin Schulz – ein Programm mit sozial reformerischen Komponenten. Auch 2017 hatte die entsprechende Partei ein zeitweiliges Umfrage-Hoch. Auch 2017 wurde der zeitweilige Erfolg in den Wählerumfragen frühzeitig zunichte gemacht – mittels einer konzertierten Medienkampagne, welche sich auf den Spitzenkandidaten einschoss, Heckenschützen aus den eigenen Reihen, die selbigen demontierten und schließlich – auch das gehört mit dazu – ein Kandidat, der die angetragene Rolle der Selbstdemütigung willig und widerspruchslos auf sich nahm.
Wird es mit den Grünen und ihrer Kandidatin Annalena Baerbock ähnlich laufen? Auch hier: ein durchaus nicht unansehnliches Reform-Wahlprogramm – im Gegensatz zu dem der Linkspartei zwar eher der sprichwörtliche Spatz auf der Hand, aber immerhin einer, der nicht so schnell wegfliegt und darum durchaus realistisch aussieht. Neben ein paar überschaubaren Sozial-Wohltaten bringen wohl vor allem die Klima-Ambitionen der Öko-Partei Medien, Medien-Eigner, Anzeigenkunden sowie die einschlägig bekannten Sturmtruppen der bürgerlich-konservativen Konkurrenz auf die Palme. Wobei weniger die grüne Kandidatur als solche die aktuelle Anti-Grünen-Kampagne befeuern dürfte als vielmehr der Umstand, dass die Öko-Partei – aus bürgerlicher Sicht – ungebührlich hoch in den Umfragen liegt.
Entsprechend dürfte die Absicht, die Grünen unter die Zwanzig-Prozent-Marke zu drücken und damit in den Bereich, wo die politische Gestaltungskraft deutlich schwindet, das eigentlich Motiv der aktuell laufenden Kampagne sein. Dass die Ökos nunmehr postdemokratische Reaktionen herausfordern, welche in ihrer konzertiert arrangierten Dramaturgieabfolge mittlerweile ungute Assoziationen an den Umgang mit der Opposition in Weißrussland hervorzurufen in der Lage sind, war allerdings nicht vorauszusehen. Irgendwas müssen die Grünen richtig machen. Möglich, dass es für die Umgestaltungsambitionen der Bildungsbürger(innen)-Partei im Herbst nicht reicht – ungeachtet der Tatsache, dass unterlegene Saar-Kandidat(inn)en bereits angekündigt haben, im benachbarten Rheinland-Pfalz beim Wahlkampf auszuhelfen. Wahrscheinlich werden wir nach dem Wahlausgang vor allem klüger sein: im Hinblick darauf, dass selbst maßvolle Reformprogramme von den Staatszuständigkeit für sich reklamierenden Bürgerlich-Konservativen mit allen Mitteln ausmanövriert wurden.
In dem Sinn ist die Nichtzulassung der saarländischen Grün-Landesliste ein ungutes Zeichen für die postdemokratischen Zustände, in die wir möglicherweise gerade hineinschliddern.
* der umgefallene Sack Reis in China: umgangssprachlich eine Umschreibung für die Absicht, jemandem die Schuld auch für solche Ereignisse zuzuschieben, die völlig außerhalb der Einflussmöglichkeiten besagter Person liegen. Der Begriff könnte – eingedenk einschlägiger Engagements des Deutschen Kaiserreichs in Fernost – kolonialistisch konnoniert sein. Ein weiteres geläufiges Bonmot, hier explizit NICHT auf die ehemalige Saargrünen-Landesvorsitzende Simone Peter gemünzt: jemanden den Schwarzen Peter zuschieben.
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