Liebe Mitbürger – die Lage ist ernst. Weil das gerademal überhaupt nicht geht, hier gleich der neue Versuch: Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger – die Lage ist ähem … ausbaufähig. Wird sich der Leiter – oder die Leiterin oder, noch besser: das liebe Team – des WDR-Kinderchors zum Jahreswechsel vielleicht ebenfalls denken. Ein ordentlicher Rüffel bewegt bekanntlich das Denkvermögen, und Rüffel stecken die Kölner Domspatzen derzeit im Kubikmetervolumen ein. BILD – stetiglich Stimme des Volkes – stellt schon mal richtig: »Wir sind keine Umweltsäue!«, während der Chorleiter (also doch ein Mann – ouwa) via Süddeutsche Abbitte leistet und vermeldet: »Dieses Ausmaß habe ich im Ansatz nicht erwartet«.
Knapp vor Jahresende haben wir also – doch noch und unverhofft – eine veritable Staatskrise. Damit die Sache Böhmermannsche Dimensionen bekommt, hier schnell der YT-Link zum corpus delicti. Sicher würde der Song in bester Siebziger-Sesamstraßemanier einleitend auch diesen Beitrag gut schmücken. Allerdings bin ich mir fast sicher, dass der WDR seine Selbstkritik-Hausaufgaben gründlich macht und binnen Tagen dafür Sorge trägt, dass die Oma-Einspielung aus dem Netz verschwindet. Viel interessanter als schnöde Satire-Konsumption sind allerdings die investigativen Fragen, die der rundfunkliche Faux-pas aufwirft. Sicher: Die Kids im Video haben – ich schwöre, ich habs, mit kritischem Blick selbstredend, gesehen – an der Produktion offensichtlich jede Menge Spaß gehabt. Darüber hinaus liegt man sicher nicht verkehrt, wenn man davon ausgeht, dass die groovenden Chor-Eleven auch mit der ideologischen message des zeitaktualisierten Oma-Klassikers d’accord gehen.
Die Frage der Fragen ist jedoch: Wer hat den Chor-Youngsters den Floh ins Ohr gesetzt? Kannten die den Song – ein populärer Volksschlager aus der Nazi-Ära – bereits vorher? Kaum anzunehmen – selbst Dylan oder Madonna muß man dieser Generation erst nahebringen. Fazit so: Ich möchte, sozusagen präventiv, zwar beindruckt sein. Allerdings denke ich eher, dass ein mittelalter bis alter Redakteur den Anstoß gab für die Einspielung. Ideologisch liegt die neue Motorradsong-Variante exakt auf der Öko-Linie des neuen (oder vielmehr: nunmehr alten) Jahres. Vom SUV bis zum Discouterkotelett: Alle Topoi, dass »wir« mit unserem Konsumverhalten die Haupt-Klimakiller sind, sind mit drin. Nur bei der Oma mit der violettenen Haarsträhne made by Gabi’s Friseurstudio ist die message noch nicht angekommen. Klar – das hauptsächlich aus der Richtung (oder ist es doch BILD?) nunmehr die Empörungswelle wabert. Meine Meinung (außer der jetzt, dass die Jugend immer Recht hat): Was ist gegen diese prägnant-zutreffende Zurschaustellung des aktuellen politischen Meinungsbilds einzuwenden? Anders gesagt: Habt ihr keine anderen Probleme? Oder, noch deutlicher: Gehts noch?
Aufspießen wollte ich in diesen beschaulichen Jahresausklangs-Gedanken noch das Thema »toxische Männlichkeit« – ihrerseits treffend aufgespießt in diesem Beitrag aus der dF-Community. Allerdings wäre das etwas unehrlich. Wenn ich ehrlich bin, muß ich gestehen: toxische Männlichkeit ist in meinem Themen-Universum nicht so richtig oben auf der Prioritätenliste. Entsprechend will ich gar nicht erst versuchen, an der Stelle Pro- oder Contra-Argumente zu führen. Eines – Sorry, ein gefundenes Haar in der Nudelsuppe muß nun doch sein – finde ich aber doch bezeichnend: Sowohl der Freitag als auch die Einspieler(innen) des WDRlichen »Umweltsau«-Songs scheinen die Hauptursache der Krisen, die gegenwärtig das Land, die Welt und den Globus plagen, hauptsächlich auf der intergenerationell-geschlechtertechnischen Ebene zu verorten. Zugegeben: im WDR-Song ist der (»die«?) Böse feminin konnoniert. Zumindest im liberalen Gesellschaftssegment ist »Weißer alter Mann« aber nun mal aktuellste Hauptursachenverortung für alles Böse schlechthin. Ebenso wie die Konsumentenschuld, wenn im nächsten Jahr – wie zu befürchten – sommerzeits mal wieder das Thermometer durch die Decke geht. Ich will’s an der Stelle so nur als Chronist fixieren: Schuld an der gegenwärtigen Krise der Zeit / der Moderne sind ausschließlich Angry White Men sowie Umweltsäue unbestimmten, wenn auch meist älteren Geschlechts, die keine Flugscham aufbringen.
Positiv zu vermerken ist, dass bei aller Zuspitzung sich alle am Riemen reißen und sich den letzten Tabubrecher des Jahres – den Spruch: »Na dann geht doch sterben« – dann doch verkneifen. Nach vorne gedacht stellt sich bei alldem die Frage, wie wir uns denn überhaupt fortbewegen wollen. Die Bahn kann da die Lösung kaum sein. Zwar findet man im Netz durchaus auch positive Meldungen, beispielweise: »Die Deutsche Bahn will wieder mehr Reisende in ihre Züge bringen und verzichtet daher zum Fahrplanwechsel im Dezember auf höhere Preise im Fernverkehr.« Leider ist diese Facebook-Fundstelle von 2015, und – Hand aufs Herz, liebe Bahn: Richtig besser geworden ist es seither nicht wirklich. Zyniker(innen) können gar noch einen draufsetzen und konstatieren, dass eher ein Berliner Flughafen in diesem Erdzeitalter fertig gebaut wird, als dass die Deutsche Bahn Streckennetz-Modernisierung, Klima-Verkehrswende sowie die chronischen Verspätungen in den Griff kriegt. Da auch diese Problematik zugegeben multikausal ist und das Paket, dass die Bahn zu stemmen hat, geradezu gigantöse Dimensionen hat, lässt sich nur sagen, dass wir wohl auch in dem Bereich in den Zustand hineinswitchen, der bereits in der Headline konstatiert wird: Deutschland ist einfach der kranke Mann Europas.
Bei aller Liebe zum Schlechtmachen und vorjahreswechsel-bedingter Nörgelei soll nicht vergessen werden, dass es selbst zwischen Flensburg und Garmisch-Patenkirchen Dinge gibt, die laufen. Sicher – getrommelt und gepfiffen sei: nicht immer in idealer Weise, nicht immer parlamentarisch abgesegnet, mit Prüfsiegel sowie Stempel vom Amt, wie es sich gehört. Dass unsere Schulen – ein paar Privatschulen einmal ausgenommen – marode sind und es sogar Kinder geben soll, die seit Wochen keinen Lehrer gesehen haben, ist ein Mißstand. Man sollte meinen, alle singen »Hosiana!« (und Süddeutsche, tagesschau.de oder SPON schicken jemand vorbei), wenn Bürgerinnen und Bürger diesem wenigstens in Eigenregie abhelfen, regentröppelnde Klassendecken abdichten und sich auch nicht zu schade sind, beim Tafelsilber sozusagen des Bildungssystems, dem Unterricht in die Bresche zu springen. Zugegeben – die Angelegenheit hat zweifelsohne ein paar Nachteile: staatlich-kommunal betriebenes Lohndumping etwa. Aber geht tatsächlich die Welt unter, wenn »Quereinsteiger« (ich weiß: in Deutschland, wo ohne Zertifikat nichts geht, per se ein Verbrechen) unsere Hoffnung, unsere Zukunft des Landes unterrichten? Meint jedenfalls Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Anstatt die sicher ausbaufähige Bezahlung der lehrerischen Hilfskräfte zu kritisieren (sofern eine solche überhaupt stattfindet und die Chose wegen Schwarzer Null nicht gleich über die »Ehrenamt«-Schiene aufgegleist ist), attestiert Meidinger ein »Verbrechen an den Kindern«.
Oha, denke ich: Da müht sich die schulische Hilfskraft (»Quereinsteiger« natürlich) ab, den Kids sowas wie IT-Kompentenz beizubringen, oder es gibt einen außerplanmäßigen Öko-Ausflugsvormittag in die Pampa – mit dem Nebeneffekt, dass bei der Gelegenheit gleich praktisches Biologie-Interesse mit gefördert wird. Das sprichwörtliche Haar in der Suppe: Das Ganze findet nicht auf ordnungsgemäß ausgebildeter Basis statt. Da können die Kids mal … nee, den verkneife ich mir nun ebenfalls. Haken wir also auch diese Meldung unter der Rubrik »Endjahres-Meldungen« ab. In ein paar Tagen ist der Spuk eh vorbei, und die derzeit etwas malade daherkommenden Männer und Frauen in Good Old Germany können sich (so sie denn wollen) wirklichen Problemen widmen. Vor allem, wo das Wetter perspektivisch langsam wieder wärmer wird und für den Rest des Winterblues die Fünfte Jahreszeit bereits in den Hufen steht. Im Grunde könnte man sich das gesamte Potpourri mehr oder weniger verdrießlicher Jahresend-Meldungen sparen und – sofern man sich bei der Gelegenheit nicht noch über winterliche Outdoor-Straßenglüher mit aufregen möchte oder die obligatorische Böller-Frage – gleich in selbige übergehen nach dem Motto:
Alaaf – Wolle mer ne reilasse? Für all diejenigen, die sich trotz Neujahrs-Schwarzmalerei ein bißchen Zweckoptimismus bewahren wollen, empfiehlt sich unterdess das alte Bonmot: Die Hose zwickt und kneift – aber sie hält.
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