Der Weltwunder-Erklärer

Buchbesprechung Wikipedia feierte im Januar ihr 20jähriges Bestehen. Pavel Richter, Ex-Geschäftsführer von Wikimedia Deutschland, liefert das Buch zum Jubiläum

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Es ist ein anschaulicher, in vielen Aspekten durchaus interessanter Blick in den Wikipedia-Maschinenraum
Es ist ein anschaulicher, in vielen Aspekten durchaus interessanter Blick in den Wikipedia-Maschinenraum

Foto: Peter Macdiarmid/Getty Images

Es gibt Konstellationen, die sind nicht optimal. Im vorliegenden Fall sind es gleich zwei. Zum einen die, dass Pavel Richter, Autor des Buchs Die Wikipedia-Story, über Jahre Geschäftsführer des Vereins war, welcher die Belange der Online-Enzyklopädie in Deutschland supportet. Die Rolle »Aktiver bei Buchbetrachtungs-Gegenstand« verspricht nicht gerade den unvoreingenommenen und vielleicht sogar kritischen Blick. Andererseits kann die Position des Beteiligten, des Aktiven Einblicke liefern, die von außen so nicht möglich sind. Punkt zwei ist der Verfasser dieser Rezension. Als langjähriger Aktiver – vorwiegend im Bereich der Textproduktion – hat er ebenfalls einschlägige Erfahrungen gesammelt mit der Funktionsweise von Wikipedia. Auch die durchlebten Konflikte ähneln sich. Dem Rezensenten wurden sie vor zwei Jahren zu viel. Pavel Richter wiederum geriet – was er im Buch näher erläutert – in Konflikt mit dem Verein, bei dem er angestellt war. Disclaimer also zum Rezensionsbeginn: Einschlägige Erfahrungen mit Wikipedia bringen beide ein – Buchautor wie Rezensent.

Erfahrung ist gut – wie aber sie vermitteln? Eine nachgerade typische Eigenheit des Sujets ist die Unmöglichkeit, es so zu beschreiben, dass alle – oder zumindest die meisten – damit einverstanden sind. Ob Journalisten, Feministinnen, Wikipedia-Aktive, Kritiker unterschiedlichster Couleur und Motivation oder auch Verschwörungstheoretiker – gescheitert sind an an derlei Vorhaben bislang so gut wie alle. Im Klartext bedeutet das: Publikationen zu Wikipedia füllen mittlerweile zwar Regalreihen, Ablagesysteme sowie den internen Pressespiegel des Projekts – der Ort, wo alles Geschriebene über Wikipedia aufgelistet ist. Eine ALLEN Aspekten gerecht werdende Form der Abhandlung allerdings – sozusagen die eierlegende Wollmilchsau der Wikipedistik – hat bis dato noch niemand gefunden. Zumal das Publikumsinteresse an derlei Interna überschaubar ist. Was auch die Abrufstatistik der projektinternen Pressespiegel-Seite unter Beweis stellt. Mit 2.138 Aufrufen in der Woche zwischen 17. und 23. Januar fällt das Interesse zwar solide, verglichen mit den derzeitigen Top-Runnern des Portals jedoch eher mittelprächtig aus. Verlässlich höhere Seitentraffics – genauer: rund neunmal so viel – generiert da allenfalls noch die wohl exotischste Seite des Projekts: die für Vandalismusmeldungen.

Übersetzt bedeutet das alles: Wie das größte Enzyklopädieportal der Geschichte im Detail funktioniert, interessiert eher die Spezialisten als die breite Masse. Plausibelster Grund: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Unter neoliberalen Vorzeichen zählt da schon eher die Frage, wie gut er rennt. Um mit den guten Nachrichten zu beginnen: An Rennstärke läßt der Gaul kaum Wünsche offen. Bereits zur Halbzeit – also 2010 – lieferte Wikipedia Infos bis zum Abwinken. Ob Staaten, einzelne Städte oder historische Ereignisse, ob harte Medizin-Facts oder Popkulturelles: in der Online-Enzyklopädie findet sich so gut wie alles – mal so la-la und eher knapp, mal richtig gründlich und auch stilistisch weitestgehend beanstandungsfrei. Ebenfalls beachtlich sind die kaum vorhandenen Berührungsängste: Einträge zu Themen aus Porno- und Netzkultur finden sich unter de.wikipedia.org oder in anderen Sprachausgaben ebenso wie solche zu Trash-Promis oder Wissen jener Sorte, auf das die Welt, naja, vielleicht nicht unbedingt gewartet hat. In einem Satz: Längst ist Wikipedia eine unverzichtbare Alltagshilfe. Ein Aspekt, den auch Pavel Richter in seinem Buch durchaus anspricht. Wenn er auch, in der Beziehung mustergültiger Wikipedianer, eher den sachlichen Ton wählt, das Eigenlob hintanstellt und stattdessen in geduldiger, erklärender Manier beschreibt, wie Wikipedia »tickt«.

Herausgekommen ist ein anschaulicher, in vielen Aspekten durchaus interessanter Blick in den Wikipedia-Maschinenraum. Über 230 Seiten gibt Pavel Richter den geduldig-sachverständigen Erklärer, der dem Publikum die Funktionsweise von und auch die Ereignisse rund um Wikipedia erläutert. Einerseits ist das durchaus aufschlussreich – zumal ja auch niemand animiert oder sogar bedrängt wird. Andererseits kann sich das Buch die Do-It-Yourself-Grundhaltung der freien Enzyklopädie doch nicht in Gänze verkneifen. Das Motto »Wenn mehr Aktive sich an Wikipedia beteiligen würden, würde das Internet-Lexikon NOCH besser« zieht sich am Ende doch wie ein roter Faden durch das Buch. Das ist aus der Sichtwarte eines Aktiven sicher nicht zu beanstanden. Andererseits impliziert diese Haltung einen vielleicht doch zu milden Blick auf die diversen Problemstellen. Anders gesagt: Eine mit Engagement vorgetragene Weckpredigt, was im Anblick seit Jahren sinkender Aktiven-Zahlen vielleicht schief läuft und wie das eventuell zu ändern wäre, ist Die Wikipedia-Story sicherlich nicht.

Umgekehrt allerdings auch keine Betriebs-Festschrift. Die Höhen, Untiefen sowie strukturellen Projekt-Dauerprobleme des Projekts spart Pavel Richter keinesfalls aus. Den Einstieg in die Thematik liefert eine Art Schnelldurchgang der Wiki-Bewegung. Kapitel zwei erläutert die – für Außenstehende nach wie vor erklärbedürftige – Frage, wie ein Artikel entsteht (und in manchen Fällen auch an den Aufnahmekriterien des Lexikons scheitert). Die beiden Anschlusskapitel widmen sich dem organisatorischen Gerüst des Ganzen: der gemeinnützigen Wikimedia Foundation, ihren lokalen Chaptern (wie etwa Wikimedia Deutschland e. V.), dem spendenbasierten Finanzierungssystem und schließlich der Struktur, welche das Ganze am Laufen erhält. Die Folgekapitel behandeln Detailaspekte der Wissensproduktion. Die, so Richter, genau genommen eine Wissenswiedergabe ist – basierend zum einen auf dem Grundsatz der neutralen, unvoreingenommenen Darstellung, zum anderen auf genügend reputablen Quellen. Die Kapitel im letzten Buchdrittel gehen noch tiefer in media res. Im Mittelpunkt hier: die Problematik bezahlten Auftragsschreibens (das in Wikipedia grundsätzlich erlaubt, intern jedoch stark umstritten ist), der derzeitige internationale Stand der Wiki-Bewegung und schließlich ein Dauerthema, dass auch in den Medien regelmäßig Wiederhall findet: das Gender-Gap der Wikipedia – der Umstand, dass sich nach wie vor vergleichsweise wenig Frauen beteiligen.

Grundsätzliche Kritik hingegen ist Richters Sache erkennbar nicht. Was nicht heißt, dass es in Die Wikipedia-Story nicht auch kritisch zur Sache ginge. Ein Fall etwa ist ein selbst für Wikipedia-Verhältnisse obskurer Artikelstreit und sein am Ende von der Wikipedia-Community verabschiedeter Autor, ein anderer der Bereich bezahltes Schreiben – zwei interne Konflikte, die Richter zwar als Beispiele gut veranschaulicht, zu denen es intern allerdings unterschiedliche Positionen gibt. Da das Thema »Wikipedia-Kritik« sich zwischenzeitlich fast als ein eigenes Medien-Genre etabliert hat mit seinen eigenen Highlights und Stilblüten, relativiert sich zumindest eine Frage: ob es dazu eines weiteren Buchs bedarf – zumal die positiven Seiten, siehe oben, nicht ganz unansehnlich sind. Was nicht heißt, dass es speziell zu den internen Machtstrukturen nicht mehr zu berichten gäbe – beispielsweise über das angesichts von hundertausenden No-Budget-Aktiven doch vergleichsweise üppige 200.000-US-Dollar-Jahressolär, den, so unter anderem die Süddeutsche Zeitung, der Non-Profit-Betreiber seinem zeitweiligen CEO Sue Gardner zahlte. Ein weiteres Thema, dass in Richters Buch zwar angesprochen, leider jedoch nicht weiter vertieft wird, ist die teils toxische Diskussionskultur, welche sich im Maschinenraum der Enzyklopädie etabliert hat.

An manchen Stellen fehlt er also doch – der kritische Blick. Leserinnen und Leser von Pavel Richters Buch mögen am Ende über etwas mehr Background-Wissen verfügen. Machen wir – wo es einen direkten Vergleichstitel gibt – am Ende den Vergleich: mit Alles über Wikipedia, erschienen 2011, herausgegeben von Richters Ex-Arbeitgeber Wikimedia Deutschland und inhaltlich verfasst von rund drei Dutzend Autor(inn)en aus der deutschsprachigen Wikipedia-Community. What’s the Difference? Alles über Wikipedia ist nicht mehr ganz so zeitgemäss. Inhaltlich ist das Werk stärker heterogen. Weil es von Community-Aktiven verfasst wurde, ist der Point of View stärker ein nach innen gerichteter. Wer wissen will, wie die Community »tickt« und welche Aspekte sie für erörternswert hält, wird in diesem Titel sicher eher fündig als in Pavel Richters Kompaktabhandlung. Die Wikipedia-Story hingegen ist halbwegs aktuell (bis hin zu Corona) und um eine kompakte Darstellung bemüht. Was heißt: Einsteiger(innen) sind mit Pavel Richter gut bedient, Community-Interessierte mit dem Community-Gemeinschaftstitel und bei den Cracks schließlich gibt es zwei Möglichkeiten: entweder decken sie sich mit beiden ein, oder sie haben diese Form Allgemeinüberblicke eh nicht (mehr) nötig.

Fazit so: ein flüssig geschriebener Titel zum Thema – mitunter zwar etwas durch die rosarote Brille betrachtet, nichtsdestotrotz jedoch mit ausreichend Basic-Infos für die, die sich für Wikipedia näher interessieren.

Pavel Richter: Die Wikipedia-Story. Biografie eines Weltwunders. Campus, Frankfurt am Main 2020, 232 Seiten, ISBN 978-3-593-51406-2.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden