Die Crash-Spezialistin

Buchmesse Special Karine Tuil, hierzulande bekannt durch die beiden Romane »Die Gierigen« und »Die Zeit der Ruhelosen«, legt die Finger in die offenen Wunden der französischen Gesellschaft

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Karine Tuil
Karine Tuil

Foto: Joel Saget/AFP/Getty Images

Sind Frauen-Themen, Frauen-Figuren und Frauen-Autorinnen in der zeitgenössischen Literatur genügend präsent? Als die US-Autorin Meg Wolitzer 2014 zu dieser Frage ein New-York-Times-Essay veröffentlichte, erntete sie, was zu erwarten war: sowohl Zustimmung als auch Widerspruch. Sicher ist Wolitzers Kernthese, dergemäß Verlage und Verkauf dazu tendieren, Beziehungsthemen in die obligatorische Frauenliteratur-Abteilung auszulagern, nicht einfach von der Hand zu weisen oder sonstwie abzutun. Auffällig an der Diskussion über »The Second Shelf« (deutsch: »Das zweite Regal«) war allerdings der Umstand, dass Wolitzer ihr Oeuvre, bei aller Widerrede, ohne Widerspruch mit dem von Jonathan Franzen und anderen Boliden der derzeitigen US-Literatur vergleichen konnte. Was einerseits für die (relative) Genderdurchlässigkeit der US-amerikanischen Literatur spricht, andererseits jedoch auch für die Schwere, sich in deren Spitzensegment hochzuarbeiten.

Anders sieht es im Fall der Französin Karine Tuil aus. Während Wolitzer – deren 2008 erschienener Roman »Die Zehnjahrespause« dieser Tage auf Deutsch veröffentlicht wurde – im Kontext des personengenau erzählten amerikanischen Entwicklungsromans steht, ist für die 1972 in der Pariser Peripherie geborene Autorin Karine Tuil bereits die vorgefundene Marktsituation eine andere. Während Wolitzer längst arriviertes Mitglied eines Rudels von zwei, drei Dutzend Spitzenautor(inn)en ist, welches den ambitionierten, liberal geprägten Teil des US-Buchmarktes prägt, hat Tuil – zusammen mit zwei, drei anderen Mitstreiter(inne)n – thematisch die Brechstange angesetzt und das für die französische Literatur bis dato gültige Weltdeutungsmonopol aus den Angeln gehoben. Vor wenigen Jahren noch galt der (nach rechts anschlussfähige) Kulturpessimismus des Starautors Michel Houellebecq als die ausschlaggebende, als innovativ geltende Entität der französischen Literatur. Mittlerweile jedoch hat – zusammen mit seinem Krimi-Äquivalent, dem Polar-Thriller – ein neues Genre für Wachablösung gesorgt. Sein Name: Exofiction – was in etwa meint: Romane, welche bewusst die gesellschaftlichen Zustände zum Thema machen.

Als eine der Hauptexponentinnen der neuen Richtung – genauer: ihrer literarischeren Variante – gilt Karine Tuil. Die existenzialistisch-politische Abrissbirne setzte die – unter anderem mit einem Jura-Abschluss ausgestattete – Tochter tunesischer Juden bereits in ihrem neunten, hierzulande unter dem Titel »Die Gierigen« erschienenen Roman an. Im Mittelpunkt stehen drei ehemalige Freunde: Nina, Samuel und Samir. Samuel, jüdischer Herkunft, aber – nach einer kurzzeitigen Flucht in orthodoxe Gefilde – weltlich gestimmter Agnostiker, arbeitet als schlecht bezahlter Sozialarbeiter in der Pariser Banlieue. Seine Freundin Nina verdingt sich als Model im untersten Segment des Metiers – was in der Praxis heißt: Discounter-Artikel und Katalogware anstatt Haute Couture. Mit dem Einwandererkind Samir verbindet sie eine unglücklich geendete Dreiecks-Geschichte: Samir hatte kurzzeitig ein Verhältnis mit Nina. Der chronisch in Selbstmitleid schwelgende und von einer Karriere als Romanautor träumende Samuel schaffte es allerdings, Nina mittels Selbstmordandrohung dauerhaft an sich zu binden. Samir ist zwischenzeitlich – 20 Jahre später – ein einflussreicher Anwalt an der amerikanischen Ostküste und hat dort in den jüdischen Geldadel eingeheiratet. Auslöser für die Ereignisse, welche »Die Gierigen« beschreibt, ist eine Talkshow mit Sam(ir), die Nina und Sam(uel) zufällig im TV verfolgen – und in der offensichtlich wird, dass Sam(ir) sich große Teile von Sam(uel)s Biografie angeeignet hat, um den eigenen sozialen Aufstieg zu bewerkstelligen.

Jüdische Identität, arabische Einwandereridentität – hinzukommend soziale Schieflagen, verletzter Stolz, mißglückte und geglückte Rache sowie eine politisch aufgeladene Situation, für die ein vierter im Bunde steht: Sam(ir)s jüngerer Bruder, der sich von der Kleindealerei ab- und den Radikalislamisten zuwendet und in der Folge die Geschichte auf dramatische Weise verkompliziert. Wie Autorin Tuil den Plot auflöst, soll an der Stelle nicht verraten werden. Die Teilnehmer(innen) jener Beziehungs-Karussellfahrt, die Tuil in »Die Gierigen« auf Karambolagekurs schickt, sind sozial gesehen allerdings in Milieus verhaftet, welche zuletzt ihre Kollegin Virginie Despentes auf aufsehenerregende Weise beschrieben hat. Despentes’ »Vernon-Subutex«-Dreiteiler war es schließlich auch gewesen, der die prekären Abstiegslagen im Land der Egalité unwiderruflich in den Bereich der Hochliteratur hinaufgehievt hat. Insofern hat sich Karine Tuils skandalträchtige Kollegin als maßgebliche Türöffnerin erwiesen: À la française der neueste Schrei sind nicht mehr literarische Finessen, sondern die Verfasstheit der französischen Gesellschaft – insbesondere nach dem Schock der Anschläge vom 13. November 2015.

Abgesehen von der ähnlichen Richtung, in die sich beide Autorinnen bewegen, sind Mittel sowie Stil stark verschieden. Wo Despentes die Stilform der Tirade sowie die Technik schneller Schnitte bevorzugt, kommt Tuil relativ konventionell in klarer, stilistisch nicht allzu ambitionierter Manier. Auch im Auftritt sind beide unterschiedlich: Despentes bringt in Interviews – beispielsweise hier in Deutschlandfunk Kultur – sichtlich Engelsgeduld auf, um den Fragenden zu erklären, was Prekarität ist, wie sie sich auswirkt und wie verbreitet sie zwischenzeitlich ist. Karine Tuil dagegen ist hundertprozentiger Mainstream – eine Autorin, die mühelos die richtige Meta-Ebene findet, und ansonsten eher mit dem Blick aufs große gesellschaftliche Ganze argumentiert als mit Balzac’scher Detailtreue im Hinblick auf das persönliche Feinleben gescheiterter Existenzen.

Heterogen ist allerdings nicht nur die Herangehensweise der neuen Exofictioneurs. Karine Tuils Antwort auf den Erfolgsdruck von »Die Gierigen« war der 2017 erschienene Nachfolger »Die Zeit der Ruhelosen«. Storyplot hier: ein jüdischer Mobilfunk-Unternehmer als – stilecht in der Promi-Enklave Villa Montmorency im noblen 16. Arrondissement residierender – Angehöriger der gesellschaftlichen Elite, dessen neue Frau, eine Investigativ-Journalistin mit Hang zu beruflichen und amourösen Risiken, ein traumatisierter Special-Force-Angehöriger aus der Irak-Krieg und ein in die Politik gegangener Aufsteiger aus dem Pariser Problem-Vorort Clichy-sur-Bois. Das In-Ungnade-Fallen des politischen Aufsteigers, der seine Karriere erfolgreicher Schlichtungstätigkeit während der Krawalle 2005 verdankt, ist einer der Auslöser, welche den politisch-persönlichen Crash in »Die Zeit der Ruhelosen« vorantreibt. Ein anderer sind sexistisch-kolonialistisch interpretierbare Fotos, die der Unternehmer François Vély in einem Zeitungsportrait über sich veröffentlichen lässt. Zusätzlich befördert wird Vélys persönlicher Highway to Hell von seinem – selbstüberschätzerisch als beherrschbar eingeschätztem – Background: dem Selbstmord seiner letzten Frau und der darauf folgenden Flucht seines Sohns in die jüdische Orthodoxie. Auch hier nehmen die Ereignisse ihren Lauf – spätestens, als Marion, Vélys Frau, mit dem Irak-Veteranen Romain Roller eine amour fou beginnt und Rollers Jugendfreund, der als Regierungsberater geschasste Banlieue-Politiker Osman Diboula, sich im sich anbahnenden Gesellschaftsskandal auf Vélys Seite schlägt.

Der Ansatz Karine Tuils, politische Themen und die Form des zeitgenössischen Entwicklungsromans miteinander zu verknüpfen, hat erwartungsgemäß nicht nur Anklang gefunden. Der Tagesspiegel etwa charakterisierte »Die Zeit der Ruhelosen« als in Romanform gegossenen und themenauswahltechnisch zudem völlig überfrachteten Sozialkundeunterricht. Die Figuren, so die Kritik, seien viel zu schablonenhaft gezeichnet, der Aspekt der persönlichen Entwicklung komme insgesamt zu kurz. Für Turbulenzen sorgte »Die Zeit der Ruhelosen« schließlich Mitte 2017 in der Schweizer TV-Literatursendung »Der Literaturclub«. Während Moderatorin Nicola Steiner sowie Gast Elke Heidenreich Tuils Roman wortstark und eloquent verteidigten, ging der Philosoph Philipp Tingler ebenso leidenschaftlich in die Offensive und unterzog das Buch einer harsch ausfallenden Generalkritik. Angetan von Autorin und Werk waren hingegen die Macher des ARD-Kulturmagazins »Titel, Thesen, Temperamente«. Bereits 2014 – anlässlich des Erscheinens von »Die Gierigen« stellte ttt Karine Tuil in einem Portraitfeature vor. Was in der Sprache der Literaturvermarktung letztlich nichts anderes bedeutete als »Vollzug«: eine maßgebliche Aufmerksamkeitshürde auf dem deutschsprachigen Markt war erfolgreich erklommen.

Zwischenzeitlich gibt es von Karine Tuil einen neuen Roman. Bei Edition Gallimard erschien im April »Les choses humaines«. Auch »Les choses humaines« ist eher ein brisantes Konflikt-Gemisch als ein Entwicklungsroman der ruhigeren Sorte – etwa der Bauweise, wie sie die US-Autorin Meg Wolitzer zu ihrem Markenzeichen gemacht hat. Stoff diesmal: ein Szenario, wie es die #MeToo-Debatte nicht besser hätte erfinden können. Angebracht hat Tuil diesmal ihr literarisches Dynamit an einem Starjournalisten, einer mit diesem verbündeten Gesellschaftsreporterin und der Tochter von deren derzeitiger Liebschaft – wobei die Opfer einer – erfundenen oder realen? – Vergewaltigung wird. Auch hier das für Tuil übliche Crash-Personal. Auch hier setzt sich die zu erwartende gesellschaftliche Maschinerie in Gang, und auch hier verquicken sich private Ereignisse und politische Entwicklungen zu einem Erzählstrang, der die Nerven der derzeit laufenden gesellschaftlichen Debatten trifft.

Offensichtlich hat Karine Tuil Stoffe gefunden, die genügend verallgemeinerungsfähig sind – zumindest in der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts, der nach dem großen Finanzcrash. Die Themen, die sie antreiben, charakterisierte sie in einem 2017 im Ullstein-Literaturblog erschienenen Interview mit folgenden Worten: »Ehrgeiz spielt in all meinen Roman eine wichtige Rolle. Ich finde es faszinierend, Figuren unter die Lupe zu nehmen, die hungrig nach Macht sind, und zu zeigen, wie Clan-Strukturen funktionieren, wie soziale Konflikte ablaufen, welche Hindernisse manche Menschen aufgrund ihrer Herkunft überwinden müssen. Genauso interessiert mich die Frage nach Determinismus und Zufall. Vieles im Leben ist durch glückliche Umstände bestimmt.«

Auch wenn Karine Tuils Romane eher vom Sozialrealismus der Altvorderen Zola und Balzac geprägt sind als von explizit feministischen Thematiken, ist der Literaturbetriebs-Kritik ihrer Kollegin Meg Wolitzer zumindest in einem Aspekt zuzustimmen: Bei der Autor(inn)enpflege ist verlagsseitig noch massig Spielraum nach oben. Speziell in den großen deutschsprachigen Häusern scheint der Begriff »Pflege« eher für die Aktualität der verwendeten Verlagssoftware gebräuchlich zu sein denn im Hinblick auf die Internationalität des Sortiments. Aufs Musikbusiness übertragen wäre etwa folgender Vergleich realistisch: Medienkonzern XY pusht das Beatles-Album »Magical Mystery Tour« bis zum Anschlag, winkt bei den beiden Nachfolger »Yellow Submarine« und »Abbey Road« ab und steigt bei »Let It Be« schließlich wieder ein. Meg Wolitzer hatte angesichts derartiger Veröffentlichungsgeplogenheiten Glück im Pech: Von ihren bislang zwölf Titeln liegen immerhin sieben in deutscher Sprache vor. Die als Erfolgsautorin gefeierte Virginie Despentes hingegen ist in Deutschland – abgesehen von dem »Subutex«-Dreiteiler, der verlagsseitig vermarktet wird wie die Neuerfindung der Brotschneidemaschine – faktisch nicht als Autorin präsent. Von Karine Tuil sind derzeit zwei Titel von elf erhältlich; zwei weitere sind vergriffen. Wann »Les choses humaines« ins Deutsche übersetzt wird (und ob es überhaupt dazu kommt), steht derzeit in den Sternen. Eine Veröffentlichungspolitik letztlich also, die hehre Buchmessenworte über Internationalität sowie Lesen, dass verbindet, als leeres Gerede straft. Und die allenfalls dann verständlich wäre, wenn die deutschsprachige Literatur einen Höhenflug nach dem anderen produzieren würde – was eher nicht so der Fall ist.

Lange Rede kurzer Sinn: Es wäre schade, wenn »Les choses humaines« nur deshalb nicht in Deutsch erscheinen würde, weil die großen deutschsprachigen Verlage sich im internationalen Bereich nur die Rosinen, die Highlights herauspicken. Und, wo wir schon dabei sind: Ebenfalls der Herausgabe in Deutsch harrt ein weiterer Titel von Karine Tuil – der die Hürden der Einwanderung ins Visier nehmende Roman »Douce France«. Nichts gegen Juli Zeh, Ferdinand von Schirach und den Rest der Publikumsmagneten made in Germany. Ohne Blick über den Tellerrand wird allerdings die beste Literatur provinziell.

Neuerscheinung: Les choses humaines. Edition Gallimard, Paris 2019. 341 Seiten, 24,99 Euro. ISBN 978-2072729331.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

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