Die Nazi-Exorzisten

Zivilgesellschaft Werbeboykotte, versteckte Nazi-Codes, Jagd auf Kirmes-Schausteller: Der Antifaschismus der Anständigen driftet zunehmend in Exorzismus ab. Und beschädigt die Demokratie.

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Eingebetteter MedieninhaltZivilgesellschaft 2016: Wer in dem Bild kein Nazisymbol erkennt, ist selber einer.

Die Gefahr lauert im Supermarkt. Versteckte Nazi-Codes, trickreich eingebettet in harmlose Bilder vorweihnachtlich sich auf dem gemütlichen Sofa sammelnder und Mensch-ärgere-dich-nicht spielender Familien. Unvermittelt zuschlagen kann die Gefahr auch auf dem Weihnachtsmarkt: in Form eines Kinderkarussells, hinter dessen Nummernschildern sich düstere Nazi-Botschaften verstecken. Ebenso lauern kann sie auch im Internet. Nicht nur auf Facebook-Seiten mit eindeutigen Haßbotschaften. Noch gefährlicher – zumindest in den Augen einiger Aufrechter – sind die Zuträger: Krawallblogs am rechtsmittigen Rand, die zwar – schon aufgrund der dort schreibenden Prominentenansammlung – eine gewisse Reputation genießen, dafür ihr Gift jedoch umso gefährlicher in die Mitte der Gesellschaft spritzen.

Nummernschilder mit NS-Codes

Eingebetteter MedieninhaltWerbespot mit den beanstandeten Inhalten

Keine Frage, redliche Antifaschisten müssen da Einhalt gebieten. Und so geschieht es derzeit auch. Das wohl schillerndste Beispiel, dass sich die antifaschistische Exorzismuswelle derzeit aufs Panier schreiben kann, ist der Abschuss eines Weihnachtsspots der Supermarktkette Edeka. Anlass: die beiden Autokennzeichen MU SS 420 und SO LL 3849, die in selbigem kurz auftauchen. Sabine Bamberger-Stemmann, Historikerin und Chefin der Hamburger Landeszentrale für politische Bildung, beanstandete an dem Spot gleich eine komplette Staffel untergründiger Nazi-Botschaften: »SS« stehe für Schutzstaffel, die Zahlenfolge »420« für Hitlers Geburtstag am 20. April. Auch der zweite im Clip auftauchende Wagen scheitert am TÜV der politisch Wachsamen. Die Zahl »84«, eingerahmt durch die beiden Ziffern »3« und »9«, sei ein Code für »Heil Deutschland«. Die Ziffern »3« und »9« wiederum, die den »Heil Deutschland«-Code einrahmten, stünden für »Christliche Identität« – also Antisemitismus. Darüber hinaus, so Bamberger-Stehmann, vermittele auch die Gesamtaufmachung des Spots rechte Botschaften. Beispiel: die Tatsache, dass die Kinder darin eine alte Version von Mensch ärgere dich nicht spielten.

Die Buchstabenkombination »ss« – wie etwa in »müssen« – nun unter Nazi-Vorbehalt? Das Hamburger Autokennzeichen – Kennzeichen für eine Stadt voller Nazis? Die Rechtschreibreform mit ihrem extensiven Doppel-s – gemacht eigentlich von den politisch Korrekten und nun plötzlich (wieder) des Teufels? Wer den Rechten derartige Steilvorlagen liefert, darf sich über entsprechenden Spott nicht wundern. Auf YouTube kursieren bereits Videos, welches die Inkonsequenz der promovierten Nazijägerin satirisch zum Thema machen oder Szenen aus Der Untergang mit Äußerungen des Führers zum Thema Edeka unterlegen. Valide belegt hingegen sah die düstere Nazi-Symbolik der Berliner Tagesspiegel, der die Erkenntnisse der Hamburger Nazicode-Expertin eins zu eins in einem Beitrag abdruckte. Ebenso das manager magazin, dass die erschütternden Fakten in Form eines Interviews mit Bamberger-Stemmann seinen Lesern beizubringen versuchte. Immerhin – der weihnachtliche Entenbraten kann nunmehr ohne braune Sauce auf den Tisch: Edeka hat sich zwischenzeitlich für den Spot entschuldigt.

In der Realwelt fallen die Ergebnisse derweil weniger satirisch aus. In Hamburg mußte zeitweilig ein Weihnachtsmarkt-Aussteller um seine berufliche Existenz zittern. Anlass auch hier: ein codeversehenes Autokennzeichen – diesmal aufmontiert auf den Wagen eines Kinderkarussells. Eigentlich fing es recht harmlos an. Besucher(innen) des Weihnachtsmarkt in Hamburg-Einsbüttel hatten auf dem Wagen eines Kinderkarussells die Kombination »HH 88« entdeckt. Der Aussteller erklärte sich zwar bereit, dass beanstandete Karussellwagen-Nummernschild zu entfernen. Darüber hinaus gab es eine vergleichsweise harmlose, darüber hinaus sogar plausible Erklärung für die Zeichenkombination: einen firmenhistorie- sowie baujahrbedingten Anlass.

Peter Gutzeit, Linkspartei-Politiker und Mitglied der Bezirksversammlung Eimsbüttel, wollte es damit nicht bewenden lassen. Gutzeit forderte, hier konsequenter einzuschreiten und dem Karussell-Betreiber die Konzession zu entziehen. Ein zusätzliches Indiz hatte Gutzeit ebenfalls ausgemacht: Der Karussellbetreiber wohne in einem Ort, in dem auch ein bekannter NPD-Funktionär lebe. Eine rechte Bagage? Angestoßen wohl durch die nicht ganz so empörte Berichterstattung der Hamburger Morgenpost, kam es doch noch zu einer gütlichen Einigung: Das Schild kommt ab und der Betreiber darf sein Karussell weiter betreiben. Ob anlassferne Berufsverbots-Drohungen allerdings der Stoff sind, welcher den zivilgesellschaftlichen Kräften die Herzen der Bevölkerung zufliegen lässt, darf man eher bezweifeln. Nicht immer ist gut gemeint auch gut getan.

Hilft Werbeboykott gegen Meinung?

Bei Henryk M. Broder und seinem rechtspopulistischen Krawallblog liegen die Dinge anders. Für viele mag die Achse des Guten zwar ein veritables rotes Tuch sein – ein Dauerärgerniss, dass speziell selbsternannten Anständigen regelmäßig einen (gefühlten) Strahl in den Frühstückskaffee verabreicht. Andererseits ist die Seite – schon aufgrund der dort publizierenden Autor(inn)en – ein mehr oder weniger anerkannter Bestandteil des hiesigen Meinungsspektrums. Exotisch: keine Frage; eher am politischen Rand angesiedelt: sicher. Wohl kaum jedoch ein Medium, dass sich mit rechten Hetzseiten oder auch rechtspopulistischen Progagandaportalen wie etwa Compact in einen Sack werfen lässt.

Was war geschehen? Laut einem Bericht bei Telepolis hat Gerald Hensel, Stratege bei der renommierten Werbeagentur Scholz & Friends, den achgut-Blog auf einer Blacklist gelistet, welche Werbekunden mehr oder weniger empfiehlt, darauf zu achten, dass ihre Anzeigen nicht auf rechtsverdächtigen Seiten platziert werden. Hintergrund, so Telepolis: Befürchtungen, denen zufolge das rechtspopulistische US-Portal Breitbart News auch eine deutsche Dependance plant – wobei die achgut-Autoren sicher als mögliche Ansprechpartner in Betracht kämen. Mit aufgeführt in dem Briefing, das den konservativen Rechtsauslegern offenbar finanzielles Wasser abgraben sollte: Broders Achse sowie der Blog von Roland Tichy. Urheber der Bedenklichkeitseinstufung, auf die Hensel sich bezog, ist die Seite netz gegen nazis – die Anti-Rechts-Watchsite der Amadeu Antonio Stiftung. Beide – Stiftung und Watchsite – waren bereits im Sommer in die Kritik geraden – aufgrund einer umstrittenen Anti-Hasssprache-Broschüre. Chronischen Übereifer werfen der Stiftung mittlerweile einige vor; konkret: eine Tendenz, das Kind gern mit dem Bad auszuschütten und neben wirklichen Nazis alles mögliche unter Verbots-Verdikt stellen zu wollen.

Dass die Achse-Betreiber gegen derartige Zensur-Versuche vorgehen, wird man ihnen kaum verdenken können. Seit Anfang der Woche ist ist die Causa dort Hauptthema. Einen Hauch von zivilgesellschaftlichem McCarthyismus kriegt die Angelegenheit allerdings, wenn zusätzlich – hinter verschlossenen Türen – eine Verständigung darüber stattgefunden zu haben scheint, über dieses Thema nicht zu berichten. Nur ja kein Aufwand um die Chose machen? Ein Blog-Beitrag zum Thema im Online-Bereich des Freitag fiel binnen eines Tages der Löschung anheim. Und auch bei Google findet man seitens der großen Medien nur ein ein vielberedtes Schweigen im Walde.

Einziges Medium, dass über die Werbeboykott-Kalamitäten des Broder-Blogs derzeit unabhängig berichtet (also nicht der einen oder anderen Seite nahesteht und damit souffliert), ist Telepolis. Wobei der Telepolis-Artikel zeigt, dass man Medien wie die Achse durchaus kritisch sehen kann – ohne gleich den eigenen Kopf freiwillig an der antifaschistischen Garderobe abzugeben. Telepolis-Autor Florian Rötzer über den aktuellen Trend, die rechte Gefahr via Ausgrenzen, Verbote und Bannen zu bekämpfen: »Was offenbar gerade in der Zeit liegt und auch von den Rechten etwa in der Ukraine oder in den USA propagiert und was möglicherweise auch zur politischen Strategie von Institutionen wie der Nato und der EU sowie der Regierungen werden könnte (Feindbild: Russland macht Information zur Waffe), ist der Versuch, das vermeintliche Böse mit Schwarzen Listen auszutreiben. Hensel schrieb von einer Initiative, ›die Medien blacklistet, wenn diese systematische Falschmeldungen verbreiten‹.«

Wobei der Telepolis-Artikel es schafft, in seinem zweiten Teil auch die zweckorientierte Zuspitzung sowie Echauffierung, welche Broder und seine Achse-Compagneros in eigener Sache vornehmen, kritisch aufzuspießen. Insgesamt wäre es schön, wenn Medien immer so funktionieren würden: differenziert, unterschiedlich und bei allem immer die korrekte Information an oberste Stelle rückend. Leider ist dies nicht immer so. Weswegen am Ende leider auch Freitag-Verleger Jakob Augstein in der Liste der derzeitigen Nazi-Exorzisten mit aufzuführen wäre.

Die Crux mit dem F-Wort

Gute Nachricht Nummer eins: Auch Jakob Augstein hat zwischenzeitlich unter Beweis gestellt, dass er das »F-Wort« ausschreiben kann. Zwar nicht beim Freitag, immerhin aber in seiner wöchentlichen Kolumne bei Spiegel Online. Unter dem Titel Mord in Freiburg – Tat und Wahrheit versucht sich Herr Augstein – immerhin – an einer Beweisführung, warum die Nennung der Herkunft des mutmaßlichen Freiburger Täters ebenso unangemessen ist wie eine Skandalisierung des Themas generell. Ein Fortschritt ist die externe Kolumne insofern, als dass die Hauspostille Freitag sich, ähnlich wie bei den Kölner Ereignissen, nicht einmal um Lichtjahre dazu herabgequemt, die mit der Vergewaltigung und dem Mord einhergehenden Befürchtungen auch nur ansatzweise ernsthaft zu thematisieren.

Immerhin gibt es zur noblen Zurückhaltung des Freitag nunmehr auch eine Argumentationsführung. Im Wesentlichen beinhaltet sie einen wichtigen Satz – die (von dem Freiburger OB Salomon übernommene) Aussage: »Die Tat ist nicht schlimmer, weil sie ein Flüchtling begangen hat. Wäre es ein Deutscher gewesen, wäre ich nicht weniger entsetzt.« Sicher hat auch die Argumentationsführung, derzufolge das Gros der 2015 getöteten Frauen (über 300) vom aktuellen oder früheren Partner zu Tode gebracht wurde, ihre faktische Richtigkeit. Von einem guten Grundsatz und einer Statistik ausgehend bewegt sich Augstein gleich in Richtung Meta-Ebene, nach dem Motto: Nicht das Verbrechen als solches ist wichtig. Sondern das, was die Leute daraus machen. Denn, so Augstein, warnend einen großen Zwischenpunkt setzend: »›Freiburg‹ ist nun nach ›Köln‹ zur neuen Chiffre für lüsterne und gefährliche Migranten geworden.«

Fazit: Wer Streifzüge durchs Netz unternehme, dem begegneten derzeit die Spelunken, Clubs und Kontoren der Dreißerjahre wieder. Diese zugespitzte Situation habe jede Berichterstattung über muslimische Migranten mit zu berücksichtigen. Zugegeben – der Gedankengang hat Stringenz, ist angemessen anschaulich beschrieben und ergreift Position für die »richtige Seite«. Polemisch könnte man allerdings auch sagen: Augstein schreibt die Leitartikel für den moralischen Furor, in dessen Gefolge eine (gut gemachte) Werbung frikassiert wird und die eine Hälfte der Bevölkerung der anderen Tintenklecksbilder vor die Nase hält, mit deren Hilfe sie die zivilgesellschaftliche Zuverlässigkeit besagter zweiter Hälfte eruiert. Zusätzlich bewegt sich Augstein auch auf der rein faktischen Ebene auf dünnem Eis. Denn: Selbst Morde unter Blutsdeutschen schaffen es zuverlässig auf die Titelseiten der Medien – sind sie brutal genug, dramatisch genug oder sonstwie aus der Reihe fallend. Ebenda Vergewaltigung – man muß hier nur den Fall Kachelmann aufführen.

Ebenso dürftig ist die Argumentation, man solle bei dieser speziellen Art von Tätern nicht zu sehr ins Detail gehen. Speziell bei den Details fängt das Problem nämlich an, zum Problem zu werden – und zwar einem speziellen, einem kulturgemachten. Die Frauenverachtung extrem patriarchalischer Gesellschaften – und speziell die Frauenverachtung desparater Jungmänner aus diesem Kulturkreis – ist durchaus ein Problem. Wie es speziell auch die Grande Dame des deutschen Feminismus, Alice Schwarzer, anlässlich der Ereignisse in Köln in einem Buch festgestellt hat. Wobei im »Fall Freiburg« hinzukommt, dass vermutlich ein Mehrfachtäter am Werk war. Wie der stern aktuell berichtet, soll der verdächtige Hussein K. bereits vor drei Jahren, in Griechenland, eine Frau vergewaltigt und fast zu Tode gebracht haben. Erwähnenswert ist das an der Stelle nicht deshalb, um Vorbehalte gegen muslimische Täter zu schüren. Sondern schlicht und einfach deswegen, weil das Problem dieser speziellen disparaten (und männlichen) Gewalttäter vorhanden ist – unabhängig davon, was irgendwelche Rechten daraus machen. Anders gesagt: Wer dieses Problem negiert oder bagatellisiert, kann auf lange Sicht nur verlieren.

Linke Diskussionsverbote

Die zweite gute Nachricht in diesem Artikel ist: Zumindest die sogenannte »Lügenpresse« hat im Fall Freiburg ihren Job vorzüglich gemacht. Kaum eines der großen, etablierten Medien hat hier nicht eine kontinuierliche, unterschiedlichsten Aspekten gerecht werdende Berichterstattung aufgefahren. Gering veranschlagen sollte man das nicht: Á la longue gesehen sind im Fall Freiburg die – in der Vergangenheit nicht immer zu Unrecht gescholtenen – Mainstreammedien einer »gegen rechts« ausgerichteten, bürgerschaftlichen Rolle weitaus besser gerecht geworden als Augsteins Freitag – der sich derzeit kaum anders klassifizieren lässt als das letztes Refugium der Problemleugner, Kopf-in-den-Sand-Stecker, Whataboutismer und moralisch Rechtgläubigen. Um fair zu sein: Unterschiedliche Artikelversuche hat es – speziell im Online-Bereich – durchaus gegeben. Allerdings hat sich hier sehr schnell herausgestellt, dass das Thema in diesem Umfeld undiskutierbar ist (deswegen an dieser Stelle auch keine Artikellinks).

Sicher führt es an der Stelle zu weit, hier einen Bogen zu schlagen zu dem Klima an Paranoia, Denunziation und zivilgesellschaftlich verbrämter Blockwart-Mentalität, das sich wie ein trüber, grauer Nebel über die linke Hälfte der Gesellschaft zu legen droht. Ob darin bereits ein »McCarthyismus von links« angelegt ist oder sich abzeichnet, will ich an dieser Stelle nicht beurteilen. Klar auf der Hand liegt allerdings, dass ein Klima der Diskussionsverbote nicht nur nicht die Flüchtlinge schützt und die AfD verhindert.

Es beschädigt auch das schwer, was eigentlich geschützt werden soll: die Demokratie.

MEINUNGSFREIHEIT VS. ZENSUR:

Amadeu Antonio Stiftung: Hatespeech, Meinungsfreiheit und Zensur. Blogbeitrag von Carsten Dobschat anlässlich der Hate-Speech-Broschüre der Amadeu Antonio Stiftung

Warum auch Meinungsfreiheit ihre Grenzen hat. Helene Bubrowski, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Oktober 2015.

»Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen«: Das sind die Grenzen der Meinungsfreiheit. Katrin Haas, RP-Online, 17. März 2016

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

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