Die Skandalkampagne nach der Moralkampagne

Puff & Penunzen Stück für Stück kommt es ans Licht: Unsere Eliten sind nicht steuerehrlich. Nun also auch die Ikone des deutschen Staatsfeminismus, Alice Schwarzer. Eine deutsche Soap?

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Der Freitag steht bekanntlich auf der Seite der Guten & Gerechten. So hat Julian Heißler in der letzten Ausgabe ein enerviertes Plädoyer für mehr Steuermoral hingelegt, für mehr Durchgreifen, und für die Streichung des Paragrafen 371, welcher Selbstanzeigern unter bestimmten Umständen Straffreiheit zusichert. Gekrönt wird Heißlers Plädoyer für mehr Steuerehrlichkeit mit Formulierungen, die man eher in stammtischpopulistischen Magazinen wie dem Focus vermuten würde. Julian Heißler: »Steuerbetrug ist ein asozialer Akt. Der Täter oder die Täterin enthält dem Staat Mittel für gesamtgesellschaftliche Aufgaben vor.«

Störend, gelinde gesagt, ist diese Formulierung aufgrund der positiven Unterstellung, »der Staat« würde die per Steuer eingetriebene Kohle schon sinnvoll einsetzen – also nicht für mehr Militäreinsätze, mehr EU-Bürokratie, den laufenden Schuldendienst an die gerade noch subventionierten 0,1 Prozent ganz oben, die Besoldung des immer weiter ausmäandernden Staatspersonals oder den bekannten Hartz-Mix aus Brosamen & Gängelung. Sondern für sinnvolle Dinge wie etwa Schulen, Frauenhäuser und ähnliche Sozialprojekte, Straßenreparaturen oder flächendeckende Kultur. Echauffieren kann man sich beim »Fall Schwarzer« über viel. Das meiste davon reicht meines Erachtens allerdings eher dazu aus, dass einem die moralische Echauffierung schnell im Hals stecken bleibt.

»Elitis« und »Prostis«: doppelte Standards

Fangen wir mit dem schlechtesten an: der nunmehr wohl gründlich an die Wand gefahrenen Moralkampagne 2013 – den Emma-Appell gegen Prostitution. Verhandeln kann man die Diskrepanz zwischen gelebter Steuermoral und geforderter Sexualmoral auf unterschiedlichen Ebenen. Für die moralische Verwahrlosung der deutschen Gesellschaft und ihren Brutalo-Sozialdarwinismus am bezeichnensten sind allerdings die nackten steuerlichen Tatsachen. 2007 etwa führte die Berliner Steuerfahndung großangelegte Razzien durch gegen Wohnungsbordelle und Sex-Salons. Hintergrund: Seit der Verabschiedung des Prostitutionsgesetzes 2002 hat sich auch der Steuerdruck auf das Milieu stetig erhöht. Aufgrund der besonderen Hartnäckigkeit im Berliner Fall – maßgeblicher Initiator übrigens: der seinerzeitige Berliner Finanzsenatur Thilo Sarrazin – mutmaßten Betrofffene, dass der Druck unter anderem dazu diente, freischaffende Sexarbeiterinnen zur Aufgabe der Selbständigkeit und zum Wechsel in besser kontrollierte Großbordelle zu »motivieren«.

Kassiert wird im Milieu mittlerweile gemäss der sogenannten Düsseldorfer Pauschale – einem Vorsteuer-Abschlag, der sich lokal unterschiedlich zwischen 25 und 50 Euro pro Tag bewegt. Die von fiskalischer Gnadenlosigkeit gekennzeichnete Steuereinziehungspraxis in deutschen Rotlicht-Bezirken ist ein eigenes Thema. Für unser Thema relevant ist sie insofern, als dass die Steuernöte dieser Frauen und der Behördenstress, dem sie unterworfen sind, in Schwarzers Anti-Prostitutions-Kampagne nie Thema waren. Im Gegenteil. Argumentativ suchte Alice Schwarzer bei jeder Gelegenheit den Schulterschluss mit den Ordnungskräften von der Polizei. Etablissement-Betreiberinnen, die sich für akzeptable Arbeitsbedingungen einsetzen, hingegen wurden – wie etwa Felicitas Schirow vom Berliner Café Pssst – von Schwarzer mit besonderer Vehemenz attackiert und als kapitalistische Nutzniesserinnen der Prostitution angeprangert. Die Pointe der Geschichte: Während Schirow und die in ihrer Anbahnungsgaststätte frei arbeitenden Frauen vermutlich jeden Heller abdrücken, den der Staat fordert, hat sich Schwarzer, die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen eben jener Frauen mittels einer populistischen Kampagne attackierte, die Freiheit genommen, das eben nicht zu tun und die Kohle lieber in der Schweiz zu verstecken. Richter Gnadenlos, ich hör’ dir trapsen, oder: Besser hat sich die Doppelmoral der deutschen Elite selten desavouiert.

Cui bono – wem nützt der Skandal?

Alice im Wunderland der doppelten Moral-Standards – eine ordentliche Portion Schadenfreude darf man sich angesichts der neuen Finten, die die Staatseliten schlagen, sicher gönnen. Aber moralisches Impeto? Das deutsche Steuersystem ist eines der brutalsten auf der Welt. Fachleute durchschauen es nicht, Schulden dort verkorksen Leben; selbst normalen 08-15-Bundesbürger(inne)n treiben der Fiskus und seine Formulare mitunter den Angstschweiss auf die Stirn. Eine Prozedere zur Vermeidung der kalten Progression (die nicht bei »denen da oben«, sondern vielmehr in den unteren Verdiener-Etagen spürbar zuschlägt) wird es in Deutschland, trotz einem Heer sachverständiger Bürokraten, vermutlich erst nach Gelingen einer sozialistischen Revolution geben. «Steuererklärungen, die auf Bierdeckel passen«? Bierzelt-Jokes für sozialdemokratische Kanzlerkandidaten. Angesichts dieser von allen Parteien goutierten spätfeudalistischen Zustände: Was genau hat Frau Schwarzer verbrochen? Einem Staat, gegen dessen Kriegsinterventionen und Sozialabbau sie sicher wenig einzuwenden hat, Geld zur Durchführung von – WAS ? – entzogen?

Wie mit der »Causa Alice Schwarzer« umgehen? Ehrlich gesagt ist mehr als Schadenfreude bei mir nicht drin. Selbst bei dieser schwingen die Gedanken an mögliche Kollateralschäden mit, also das schlechte Gewissen. Insgesamt Abwägenssache: Ob man über den Absturz von der »Erzieherin der Nation« zur »Steuerhinterzieherin der Nation« vergnügt schmunzelt. Oder ob man die moralische Selbstgerechtigkeit und den Spießer-Furor, dem nunmehr ein neues mediales Opfer zum Frass vorgeworfen wird, einfach abstossend, schäbig, bigott und in seiner Konsequenz furchteinflössend findet. Steuerhinterziehung ist kein Kavalliersdelikt. Mag sein. Kocht der Furor der Rechtschaffenen in Deutschland allerdings erst mal über, dürfte dieser Erbauungsspruch ein schlechter Trost sein. Erfahrungsgemäss gehen Bewegungen zur Hebung der allgemeinen Moral (für Volksgemeinschaft, gegen Asphaltkultur, gegen Rauchen, gegen Artfremde) in Deutschland immer nach rechts. Unter Merkel, Gabriel und Steinmeier mag das vielleicht nicht das Schlimmstdenkbare bedeuten. Steter Tropfen höhlt allerdings den Stein. Die Postdemokratie klopft schon seit längerem an die Pforten. Was mag sie bringen? Bereits im neoliberalen Normalmodus ist sie nur schwer auszuhalten. Kommen das deutsche Zuchthaus und die deutsche Kaserne dazu, wirds in der Baracke des Exportweltmeisters erst richtig trostlos. Und für die anderen draußen: langsam zum Fürchten.

Denken wir praktisch, denken wir nach vorne. Schwarzer wird sie überleben, die Skandalkampagne nach der Moralkampagne. Sicher kein Fall für Mitleid. Die durch den Emma-Appell bewirkten Pläne zur Verschärfung des Prostitutionsgesetzes werden – nach diesem »Zwischenfall« – vermutlich noch moderater ausfallen, als es ohne der Fall gewesen wäre. Statt einen Fünftel mehr Druck, mehr Kontrollen und mehr Reglement wird es vielleicht nur ein Zehntel davon geben. Ein Zehntel Schlechtes, in die falsche Richtung Gehendes anstatt ein Fünftel. Hegel hätte an dieser Form Dialektik sicher seine Freude. Dass eine »systemische« Verfehlung dazu beiträgt, eine andere System-Verfehlung zu konterkarrieren, zu mässigen, wäre sicher die Art Humor gewesen, auf die der alte Lehrmeister und seine Schüler Marx und Engels gestanden hätten.

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Geschrieben von

Richard Zietz

Linksorientierter Schreiber mit Faible für Popkultur. Grundhaltung: Das Soziale ist das große Thema unserer Zeit.

Richard Zietz

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